»Das kann nicht sein«, keuchte Turgur angestrengt. »Er müsste uns unterliegen. Nudin …« Seine Augen weiteten sich. Voller Grauen schaute er auf seine Hand, die rapide alterte. Die Haut warf Falten, wurde fleckig, bis sie schwarze Stellen bekam und zu verwesen begann. Der Schöne stieß einen Gegenzauber hervor, doch es war vergebens. Die Zersetzung wanderte seinen Arm hinauf, ergriff seinen ganzen Rumpf und breitete sich weiter aus.
»Halte durch!« Sabora sprang ihm bei. Sie legte ihre Hand ohne Scheu auf die sterbenden Stellen, um sie durch ihre Kräfte zum Heilen zu bringen, aber auch sie scheiterte.
Turgur fiel hin, da es nichts mehr gab, was seinen Körper halten konnte. Seine Zunge war ein Stück stinkendes Fleisch geworden, und so lallte er hilflos. Seine Schönheit schwand und kurz darauf sein Leben. Der Magus hatte sich bei lebendigem Leib aufgelöst.
Lot-Ionan versuchte, die aufkeimende Furcht vor dem Verräter niederzuringen. Nudin kannte Zauber, die es im Geborgenen Land nicht gab; das Tote Land lehrte ihn Schreckliches.
Da trat der Wissbegierige unmittelbar neben Maira hinter einer Säule hervor. Die Hüterin wich vor ihm zurück.
»Ich ließ euch die Entscheidung«, sprach er schnarrend. Er kam auf die drei zu und stellte sich neben die liegende Andôkai. »Ihr traft eure Wahl. Seht nun selbst, was ihr davon habt. Ich …«
Die eben noch regungslos verharrende Andôkai schnellte hoch und zog dabei ihr Schwert. Die Klinge sirrte durch die Luft und durchbohrte Nudins Brust.
»Dein Lohn für deinen Verrat!«, rief sie und zog die Schneide mit einem lauten Schrei nach oben. Die Rippen der linken Seite und das Schlüsselbein wurden zerschnitten, dann trat die Waffe aus. Nudin wankte, brach zusammen.
Im Fallen riss der Sterbende seinen Stab in die Höhe und stieß ihn mit enormer Kraft nach vorn. Das Ende fuhr Andôkai durch die Brust; sie ächzte auf, stürzte und krampfte die Finger um die Malachitsplitter. Dann lag sie still.
»Andôkai!« Sabora war sofort an ihrer Seite und bemühte sich, ihre Wunde mit der Kraft ihrer Magie zu heilen.
Lot-Ionan und Maira atmeten auf, als sie den Verräter in seinem Blut liegen sahen. Sie knieten sich neben die Verletzte, um ihr beizustehen, doch ihre Zauber versagten.
»Unsere Kräfte sind vom Ritual und dem Kampf zu erschöpft«, sagte Sabora und stand hastig auf. »Sorgt dafür, dass sie nicht zu viel Blut verliert, ich hole einen Famulus Nudins, der sich auf Heilzauber versteht und ausgeruht ist. Das ist besser als nichts.«
Sie machte zwei Schritte auf die Tür zu und erstarrte in der Bewegung. Ihre Hautfarbe veränderte sich, wurde von Kopf bis Fuß blassblau.
»Sabora?« Lot-Ionan griff nach ihr, um sie zu berühren. Kälte biss in seine Finger, seine Hand gefror auf der Stelle fest. Die Schweigsame war zu Eis geworden!
»Die Stürmische liegt friedlich am Boden, der Schöne büßte seine Anmut ein, die Schweigsame ist für immer still«, hörte er Nudins krächzende Stimme hinter sich. »Was geschieht wohl mit dem Geduldigen?«
Nudin!? Lot-Ionan löste sich mit Gewalt von der Maga. Hautfetzen blieben an ihrem gefrorenen Fleisch kleben, und er schrie auf. Seine geliebte Freundin so enden zu sehen versetzte ihn in unglaubliche Rage. »Du wirst dem Tod nicht noch einmal entfliehen!« Er wirbelte herum, einen schrecklichen Zauber auf den Lippen, und starrte auf den Verräter, der in blutbesudelter Robe vor ihm stand, den Onyxstab direkt auf ihn gerichtet. Die tiefe Wunde, die Andôkais Schwert angerichtet hatte, existierte nicht mehr; allein der zerschnittene Stoff zeugte von ihrer Attacke.
Doch ehe Lot-Ionan zu handeln vermochte, lähmten geheimnisvolle Kräfte seinen Körper. Sein Leib wurde immer kälter, er fror erbärmlich, die Haut straffte und spannte sich so sehr, dass ihm vor Schmerzen die Tränen über die Wangen rannen. Einzig die Augen blieben beweglich.
»Nudin, siehst du nicht, dass es dich lenkt?« Maira wollte aufstehen, glitt jedoch auf den Malachitstückchen aus. Schon schlug Nudin zu. Auf seinen Befehl hin richteten sich die unterschiedlich langen Kristallsplitter am Boden wie Dornen auf, dann griff er sie mit einem Zauberspruch an.
Sie wehrte den schwarzen Blitz ab, aber dafür fiel sie in die Splitter. Die scharfen Kanten durchschnitten ihre Kleider und die empfindliche Haut, drangen ins Fleisch und verletzten sie schwer.
»Nudin! Ich bitte dich …«, keuchte sie gepresst.
»Niemand bittet mich!« Der Magus stand breitbeinig über ihr und drosch beidhändig mit seinem Stock zu. Der schwarze Edelstein hieb ihr durchs Gesicht und blitzte, Maira schrie gellend auf. »Und auch ich werde niemanden mehr bitten!«
Wie ein Irrsinniger prügelte er auf ihren Kopf ein, bis der Schädel geräuschvoll barst und von ihrem einst so würdevollen Antlitz nichts mehr übrig geblieben war.
Ächzend richtete Nudin sich auf, und der Triumph leuchtete in seinen wahnsinnigen Augen. Er blickte sich um und betrachtete die Toten.
»Es ist eure eigene Schuld«, rief er zornig, wie um sich selbst zu verteidigen. »Eure Entscheidung brachte euch den Tod.« Er fuhr sich übers Gesicht und entdeckte das gerinnende Blut; angewidert wischte er es an seinem Gewand ab. »Nicht ich«, sagte er etwas leiser, »nicht ich.«
Lot-Ionan weinte voller Verzweiflung, mehr blieb ihm nicht mehr. Sie wurden verraten und vernichtet von einem Mann, den sie früher einst als Freund bezeichnet hatten.
Nudins Anspannung wich. Er sank auf einen der Stühle, legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Sternen.
»Ich bin Nôd’onn der Zweifache«, sprach er zu den flirrenden Punkten. »Nudin der Wissbegierige ist nicht mehr, er ging zusammen mit den anderen Fünf des Rates und kehrt nie mehr wieder.« Seine Hände klammerten sich um den Stock. »Ich bin zwei und doch eins«, wisperte er gedankenverloren, stemmte sich schwerfällig in die Höhe und schritt zum Ausgang. Lot-Ionan verfolgte ihn mit Blicken.
»Du wirst sicher sterben, mein alter und falscher Freund«, prophezeite er im Gehen. »Die Versteinerung wird dich bald vollkommen durchsetzt und zu einer Statue gemacht haben.« Er wandte ihm seine geröteten Augen zu. Sie wirkten sehr müde und enttäuscht. »Du hättest dich auf meine Seite stellen und nicht zu dem Verräter Turgur halten sollen. Aber in Erinnerung an unsere alten Zeiten verspreche ich dir, dass du einen schönen Platz erhältst«, verabschiedete er sich. Seine dicken Finger legten sich um ihn. Er umarmte den Magus und drehte ihn ein wenig, sodass er Sabora sehen konnte. »Sieh zu, während du vergehst, und stirb mit dem Wissen, dass sie dir bald folgt. Lebe wohl. Ich muss mich daran machen, unser Land zu retten. Allein. Da ihr mich im Stich ließet.«
Schon verschwand er aus Lot-Ionans Gesichtsfeld, die Türen schlossen sich rumpelnd. Der Magus war allein mit den Toten, deren Anblick seine Seele folterte; vor allem die zu Eis erstarrte Sabora brachte ihn schier um den Verstand.
Ihr Götter, wollt ihr das Geborgene Land untergehen sehen? Ich bitte euch, tut etwas, wenn es nicht so ist! Wut, Hoffnungslosigkeit, Hass und Trauer stauten sich in ihm auf, und seine Verzweiflung wurde so groß, dass er nicht mehr aufhören konnte zu weinen.
Schließlich gewährte ihm die Magie Gnade. Die letzten Tränen erstarrten als steinernes Zeugnis des Kummers auf seiner marmornen Haut, während seine Atmung aussetzte und sein Herz sich in Stein verwandelte. Der Tod ersparte dem Geduldigen den Anblick, Sabora am Tag in der unbarmherzigen Sommersonne schmelzen zu sehen. Spätestens das hätte den freundlichen Mann umgebracht.
Als alles still war, schwang sich ein riesiger Krieger durch eines der Fenster, stieg über die Toten und kniete sich neben den reglosen Körper Andôkais. Sein lauter, unmenschlicher Schrei hallte durch den Palast.
Tungdil kam zügig voran. Seine Stiefel fraßen Meile um Meile, während er sich unaufhaltsam in Richtung Nordwesten bewegte und dem Grünhain näherte. Die kürzeste Route zu seinem neuen Ziel führte ihn durch Lios Nudin, das Zauberreich von Nudin dem Wissbegierigen.