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»Es ist wichtig, dass du es erfährst. Es waren keine Kobolde, die dich zu Lot-Ionan brachten. Der Kindsraub war eine Lüge des Langen …«

»Langen?«

»So nennen wir die Menschen im Scherz. Wegen ihrer Größe. Doch zurück zu dem Zauberer. Er wollte dich so lange vor der Wahrheit verschonen, bis die rechte Zeit kam«, erklärte ihm Boëndal und reichte ihm einen Schlauch mit Wasser. »Du gehörst zum Stamm der Vierten.«

Er erinnerte sich an die Landkarte. »Das kann ich nicht glauben. Das Reich liegt viel zu weit im Norden.«

»Das hat aber einen bestimmten Grund«, fuhr der Zwerg mit ernster Miene fort. »Der König der Vierten hinterließ mit dir einen unehelichen Spross, der verheimlicht werden sollte. Unmittelbar nach der Geburt gab man dich an eine befreundete Familie, die sich um dich kümmern sollte. Die Königin erfuhr von dir und verlangte deinen Tod, damit du als Bankert in den späteren Jahren keinen Anspruch auf den Thron erheben könntest.«

»Willst du deinen Käse noch?«, unterbrach Boïndil die Rede seines Bruders. »Wenn du noch ein bisschen wartest, fällt er ins Feuer und ist verloren.« Wortlos reichte er ihm das Stöckchen. »Danke.«

»Weil die Familie Mitleid empfand, reiste sie mit dir durch das Geborgene Land und erschien bei Lot-Ionan«, fuhr Boëndal fort. »Sie vertrauten den Neugeborenen dem Magus aus einem einfachen Grund an: Die Königin käme niemals auf den Gedanken, einen Zwerg bei einem Magus zu vermuten.«

»Du weißt doch hoffentlich, dass wir Zwerge von der Magie der Langen gar nichts halten?«, meinte Boïndil argwöhnisch.

»Sei still!«, rief sein Bruder maßregelnd. »Lass mich zu Ende erzählen.« Er wandte sich wieder an Tungdil. »So, nun weißt du, warum du in Ionandar und weit abseits aller Zwergenreiche aufgewachsen bist. Jetzt, nachdem wir von dir wissen, hat der Rat der Stämme die Pflicht, dich als zweiten Bewerber um das Amt des Oberhaupts der Zwerge anzuhören.«

Tungdil nahm einen langen Zug aus dem angebotenen Wasserschlauch. »Verzeih mir, aber ich glaube euch kein Wort«, stotterte er fassungslos. »Lot-Ionan hätte mir längst die Wahrheit gesagt.«

»Er wollte es dir sagen, wenn du von deiner Wanderung zurück gekehrt wärst«, antwortete ihm Boëndal. Er öffnete seinen Rucksack und zeigte ihm einen Brief, der eindeutig die Handschrift des Magus trug. »Er gab ihn uns mit, weil er dachte, dass du uns nicht vertraust.«

Mit zitternden Fingern öffnete Tungdil die Schriftrolle und überflog die Zeilen. Es stimmte. Es stimmte alles, was sie ihm sagten!

Ich wollte nichts weiter, als andere meines Volkes zu treffen, nun aber bin ich plötzlich Anwärter auf den Thron aller Zwergenclans? »Ich kann es nicht«, würgte er hervor. »Ich begleite euch gern, aber ich überlasse meinem Rivalen das Feld.« Er lachte unglücklich auf. »Wie sollte ich denn über die Stämme regieren? Ich bin in deren Augen nicht einmal ein echter Zwerg. Keiner würde mich dulden und …«

Das Stöckchen mit dem stinkenden Käse schwebte unvermittelt unter seiner Nase. »Hör auf zu jammern«, sagte Boïndil mürrisch. »Wir haben einen langen Weg zur Festung vor uns. Das wird reichen, um aus dir einen von uns zu machen.« Das Stöckchen wippte auffordernd. »Ich habe es mir anders überlegt, du wirst kosten«, verlangte er, und das fanatische Funkeln in seinen Augen war nicht gewichen. »Je eher du Zwerg wirst, desto besser.«

Tungdil zog das warme Stück Käse vom Spieß. Es schmeckte grauenvoll, seine Finger würden die nächsten Tage danach riechen und sein Mund vermutlich auch. »Es geht nicht«, wiederholte er stur. »Ich muss die Artefakte zu Gorén bringen.«

»Es dauert nicht mehr lange, bis du in der Siedlung von Grünhain bist. Wir warten«, meinte Ingrimmsch gönnerhaft, »bis du den Sack losgeworden bist.«

Sein Zwillingsbruder nickte. »Dein Magus ist eingeweiht. Er hat uns erlaubt, dich nach Ogertod zu bringen.«

»Was würde geschehen, wenn ihr ohne mich zurückkehrtet?«

Die Geschwister wechselten einen schnellen Blick.

»Vermutlich würde Gandogar als Großkönig eingesetzt, aber es würde stets der Makel an ihm haften, nicht der wahre Herrscher zu sein«, sprach Boëndal besonnen und gab seinem Bruder ein aufmunterndes Zeichen.

»Ja, genau!«, stieg der mit ein. »Daraus könnten … Unzufriedenheiten unter den Stämmen entstehen. Manche … könnten seine Regentschaft anzweifeln, das Lager der Zwerge würde sich spalten und …«, er blickte Hilfe suchend in die Flammen, dann hellte sich sein Gesicht auf, »vielleicht käme es zum Krieg zwischen den Clans und innerhalb der Stämme. Und du wärst schuld.« Er schaute sehr zufrieden drein.

Tungdil war durcheinander. Der Tag brachte zu viel. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Orks getötet, und kurz darauf saß er mit einer Hälfte seines Hinterns auf dem königlichen Stuhl. Er musste dringend nachdenken. »Ich brauche Bedenkzeit.« Erschöpft rollte er sich neben dem Feuer zusammen und schloss die Augen.

Boïndil räusperte sich und begann leise zu singen. Es war eine Zwergenweise, die durch ihre Silben eine ganz eigene Anziehungskraft besaß und von den Zeiten vor den Zeiten sprach …

»Die Götter entstanden, weil es ihnen gefiel.

Einer schuf sich selbst aus einer Flamme, flüssigem Stein und Stahl. Das ist Vraccas der Schmied.

Eine erhob sich aus der Erde. Das ist Palandiell die Fruchtbare.

Einer bildete sich aus den Winden der Welt. Das ist Samusin der Rasche.

Eine wollte so zerstörerisch und schaffend sein wie das Wasser. Das ist Elria die Hilfreiche.

Eins vereinte Licht und Dunkelheit in sich. Das ist Tion das Zweigeschlecht.

Sie sind die Fünf …«

Mehr vernahm Tungdil nicht mehr. Die Worte in seiner Sprache, die er zum ersten Mal aus einem anderen Zwergenmund hörte, beruhigten ihn so sehr, dass er einschlief.

Mit dem Erwachen und dem Aroma des durchdringend riechenden Käses in der Nase stand sein Entschluss fest, die Zwillinge ins Reich der Zweiten zu begleiten. Die Neugier auf andere Angehörige seines Volkes siegte über die Vorbehalte.

»Damit ihr es wisst, ich habe weiterhin, nicht vor, Großkönig zu werden«, machte er ihnen deutlich. »Ich komme nur mit, um mehr über seine Familie zu erfahren.«

»Von uns aus«, meinte Boëndal zufrieden. »Hauptsache ist, dass du mitgehst.« Er und sein Bruder packten ihre Sachen zusammen, und sie schritten zügig aus. »Wir müssen so schnell wie möglich zur Siedlung, damit wir noch schneller in die Festung zurückzukehren. Die achthundert Meilen werden sich ziehen.«

»Wir bringen dich bis an den Rand des Dorfes oder was auch immer die Elbin zwischen die Bäume gezimmert hat«, meinte Boïndil unfreundlich. »Mit dem Spitzohr wollen wir nichts zu tun haben. Es ist schon schlimm genug, durch einen Elbenhain zu marschieren.« Er bespie den nächstbesten Strauch.

»Sie hat dir doch nichts getan.« Tungdil betastete den Sack mit den Artefakten vorsichtig. Es fühlte sich an, als wären ein paar Dinge darin nicht mehr so intakt, wie sie sein sollten; der Schwerthieb war den Gegenständen gewiss nicht gut bekommen. Für diese Tat hatte der Ork den Tod doppelt verdient. »Ich laufe mehr als sechshundert Meilen durch Gauragar und Lios Nudin und entgehe Orks, ohne dass die sorgfältig gehüteten Artefakte Schaden nahmen«, seufzte er. »Ausgerechnet drei oder vier Fußstunden von Gorén entfernt taucht dieses Scheusal auf und zerstört die wertvollen Stücke.« Er hoffte auf die Milde des einstigen Famulus Lot-Ionans.

Doch der Krieger war in Gedanken noch immer bei der Elbin. »Mir? Nein, sie mir nicht. Aber ihr Volk dem Volk der Zwerge«, stieß er wütend hervor. »Die Elben und ihr Hochmut, ich könnte sie …«

Der Hass drohte Boïndil zu überwältigen, er entlud seine Gefühle, indem er seine Beile zückte und blindwütig auf einen jungen Baum einschlug, der unter seinen Hieben starb.