»Ich hoffe, euer Blut klumpt nicht zu sehr.« Ihre freie Hand legte sich an einen Pfeilschaft. »Es muss flüssig sein, damit die Feinheiten gelingen.«
»Hussa, das wird ein Spaß! Wir bekommen unseren Kampf! Aber zuerst zurück in die Ruinen«, befahl Boïndil freudig auf Zwergisch. »Im Freien kann uns das Spitzohr abschießen wie die Hasen.« Sie rannten geduckt los und warfen sich hinter einer Holzwand in Deckung.
Das erste Geschoss sirrte heran. Spielend leicht durchstieß es die Bretter, hinter denen sie lagen, und prallte mit einem vernehmlichen »Ping« gegen Boëndals verstärktes Kettenhemd. Die schwarze Spitze aus Tionium hinterließ einen Kratzer im Metall. Der Getroffene fluchte.
Sie krochen tiefer in das rauchende Trümmerfeld, um sich vor der Albin zu verbergen und sie aus dem Hinterhalt anzugreifen.
Tungdil spähte um die Ecke. Er sah den schlanken Kopf des Nachtmahrs; er strich raubtiergleich durch die Überbleibsel Grünhains, und es zischte leise, wenn die Hufe der entweihten Kreatur des Lichtes auf die Erde trafen und sie brandmarkten. Die Nüstern blähten sich, er suchte nach ihrer Witterung.
Der Zwerg fühlte, wie eine nie gekannte Angst von ihm Besitz ergriff: Der Sattel des Tieres war leer! Wo ist sie hin? Die Albin befand sich irgendwo in der Siedlung. Er schloss die Augen und verdrängte alles Wissen, das mit den Albae zu tun hatte.
Als er die Lider hob, waren Boëndal und Boïndil ebenso verschwunden, und zu seiner Angst gesellte sich Kopflosigkeit.
»Wo seid ihr?«, flüsterte er, die Axt fest gepackt. Wie konnten sie ihm sagen, er sei kein Kämpfer, und ihn allein in den Trümmern sitzen lassen, während zwei der schlimmsten Kreaturen des Geborgenen Landes Jagd auf ihn machten?
Jemand berührte ihn am Arm. Tungdil fuhr zusammen und schlug sofort zu; seine Axt traf den Mann unterhalb der Rippen in die Brust. Entsetzt starrte der Zwerg auf den Verletzten. »Gorén?! Ich dachte, du bist tot?!«, stammelte er.
Der Famulus schaute abwesend auf die Wunde, welche die Schneide riss. Seine Finger betasteten die Ränder, dann blickte er ihn an. »Ich …«, stöhnte er, »spüre … nichts.« Er zog sich einen Orkpfeil aus dem Leib. »Nichts«, wiederholte er verzweifelt. »Aber … ich … hasse …« Seine Hand griff einen Balken, die gebrochenen Augen gingen durch den Zwerg hindurch.
»Gorén, nein, warte, ich …« Als er nach ihm schlug, rutschte Tungdil zur Seite, und das Holzstück stieß polternd gegen die Wand.
Das war laut genug, um von den Jägern gehört zu werden. Der Nachtmahr wieherte auf, Hufschlag näherte sich.
Der Zwerg robbte hastig weiter, um unter einer eingestürzten Decke zu verschwinden; der Hengst sollte ihn nicht finden.
»Ich … fühle …« Gorén erhob sich schwankend und torkelte wie ein Betrunkener durch die Reste des Gebäudes auf den Platz hinaus; die Planke zog er hinter sich her.
Da sprengte der Rappe heran und trampelte ihn einfach nieder. Tungdil sah ganz genau, wie der Vorderlauf Funken stiebend in die Bauchdecke eindrang, doch zu seinem Entsetzen regte sich der Mann wieder!
Der Anblick öffnete dem Zwerg die Augen. Das Tote Land hat von Grünhain Besitz ergriffen. Alles, was in dem Forst stirbt, kehrt untot zurück. Die Bäume trauerten nicht um die Elbin, nein, die finstere Macht sickerte in die Erde und schlich sich durch ihre Wurzeln bis in ihre Spitzen und Wipfel.
Wie ist das möglich? Wie kam es durch die Schutzbarriere?, dachte er verwirrt. Lot-Ionan muss unbedingt Nachricht davon erhalten, ehe ich mit den Zwillingen nach Süden ziehe. Wenn es dem Bösen gelingt, an einer Stelle durch die Sperre zu dringen, gelingt es ihm vielleicht auch an weiteren Orten.
Doch dazu musste es den drei Zwergen gelingen, lebend aus dem Wald zu entkommen, und daran zweifelte er noch.
Der Nachtmahr hatte seinen Geruch aufgespürt und kehrte zurück. Die Hufe stampften gegen Tungdils Versteck, Blitze zuckten, Dielenstücke wurden zu Splittern gestampft. Der Rappe wollte den Zwerg aus seinem Schlupfwinkel treiben.
Etwas anderes blieb Tungdil auch nicht übrig. Er rutschte auf der anderen Seite ins Freie, um sich hinter die nächste Schützung zu werfen, aber das ließ der Nachtmahr nicht zu.
Mit einem gewaltigen Sprung setzte er über das Hindernis. Der Hals des Tieres streckte sich, die Kiefer schnappten zu und fassten die rechte Schulter. Das Kettenhemd verhinderte, dass die scharfen Zähne schlimmen Schaden anrichteten, doch die Kraft reichte aus, um das Gelenk zu quetschen.
»Verdammtes Viech«, schrie Tungdil und versuchte, es mit seiner Axt zu treffen. Zwergischer Kampfgeist erwachte in ihm und bezwang die Angst.
Der Rappe aber gab seine Beute nicht frei. Er riss den Kopf hoch und schüttelte Tungdil wie eine Spielzeugpuppe. Abrupt öffnete sich das Maul, der Zwerg flog trudelnd durch die Luft und schlug im grau gewordenen Gras auf. Der Nachmahr wieherte, der Hinterlauf scharrte und grub eine tiefe Furche in die Erde. Während Tungdil noch versuchte, die Orientierung zurückzugewinnen, stürmte das Wesen heran.
Plötzlich waren die Zwillinge da. Sie sprangen rechts und links des Weges aus ihrer Deckung, als der Hengst auf ihrer Höhe vorbeigaloppierte.
»Komm, mein Pferdchen! Ich mache ein Pony aus dir!« Das beidhändig geführte Beil Boïndils durchschlug das rechte, der Krähenschnabel zerschmetterte das linke Knie des Nachtmahrs.
Die Kreatur Tions stürzte und überschlug sich mehrfach. Aschewolken stoben in die Höhe, doch der Rappe versuchte ungeachtet seiner Qualen, wieder auf die Beine zu kommen. Dann waren die Zwergenkrieger über ihm.
»Jetzt kämpfen wir auf Augenhöhe miteinander.« Der Nachtmahr schnappte nach Boïndil und erhielt dafür die Klinge tief in das Maul getrieben. »Friss das!« Der schwarze Kopf schnellte zurück, womit das Wesen sein Schicksal besiegelte.
Die gekrümmte Spitze von Boëndals Waffe rammte sich genau zwischen den Augen in die Stirn, die Muskeln an den Armen und am Oberkörper schwollen an, die Stiefel stemmten sich gegen den Boden. Nun zeigte er, warum er Pinnhand hieß. Er zog den eingehakten Schädel des Rappen zu sich und gab seinem Bruder die Gelegenheit, das Beil in dessen Nacken zu schlagen.
»Willst du immer noch beißen, Klepper?« Boïndil drosch zu. Die Halswirbel brachen, der Nachmahr erschlaffte.
Boëndal stellte seinen Stiefel auf den Kopf des Wesens und hebelte den langen Dorn aus dem Knochen.
Sein Zwillingsbruder grinste. »Jetzt ist das spitzohrige Reiterlein an der Reihe.« Er deutete hinter Tungdil. »Versteck dich besser und schau zu, wie man kämpft, damit du es lernst.«
Sie kauerten sich in der Nähe des toten Nachtmahrs nieder und warteten. Tungdil wollte ihnen von seinem Erlebnis mit dem Untoten berichten, aber sie winkten ab. Erst mussten sie sich die Albin vom Hals schaffen.
Es dauerte nicht lange, da hörten sie einen lang gezogenen, unmenschlichen Frauenschrei.
Boïndil wackelte fröhlich mit den Augenbrauen, warf den Zopf nach hinten und hielt sich bereit. »Das klang doch wie Musik in meinen Ohren.«
Boëndal lauschte, ehe er unvermittelt aufsprang; sein Bruder folgte ihm, ohne Fragen zu stellen.
Ich sollte sie begleiten, anstatt feige herumzusitzen. Tungdil fühlte sich verpflichtet, ihnen gegen die schreckliche Gegnerin beizustehen, und wenn er nur zur Ablenkung taugte. Er packte seufzend seine Axt und wollte gerade aufstehen, als ihn zwei skelettierte Hände von hinten an den Schultern packten und ihn zu Boden drückten.
»Wer bist du?«, hörte er eine feine weibliche Stimme fragen, während übel riechende, feuchte Knochenfinger in seinem Gesicht herum tasteten. »Du bist klein. Ein Unterirdischer?«
Der Zwerg wurde herumgerollt. Er schaute in das geschändete Gesicht der anmutigen Elbin. Auch sie war zur Wiedergängerin geworden. Die Herrin des Grünhains hatte sich von der Buche losgerissen und irrte blind umher, weil ihr die Albae die Augen nahmen.
»Lass mich, Elbin!«, schrie Tungdil und versuchte, an seine Waffe zu gelangen. Doch sie hielt seine Arme fest, sodass er nur seinen Dolch greifen konnte. Er stach zu; die Klinge klirrte gegen die blanken Rippen und richtete keinerlei Schaden an.