»Was macht ein Zwerg in meinem Hain!?«, herrschte sie ihn an, und ihre knöcherne Hand legte sich um seine Kehle. »Machst du gemeinsame Sache mit den Albae? Ist euer Hass so groß gegen mein Volk geworden, dass ihr euch mit dem Bösen einlasst, um uns zu vernichten?«
Er rang seine Angst nieder und bemerkte den Unterschied in ihrem Tonfall. Sie klang nicht wie Gorén, offenbar verfügte sie über einen Rest eigenen Willens. »Nein, Herrin! Lot-Ionan schickte mich, um Goréns Artefakte zu überbringen …«, würgte er hervor.
Ihre schwarzen Augenhöhlen richteten sich auf ihn. »Was geschieht mit mir?«, raunte sie ängstlich. »Ich spüre, dass ich mich verändere. Ich war tot, doch … meine Seele …« Die Elbin stockte. »Lot-Ionan sandte dich? Der Nestor meines Geliebten?« Ihr unbarmherziger Griff lockerte sich. »Es gibt ein Buch, drüben im Haupthaus, es liegt in der Bibliothek. Gorén wollte es deinem Magus bringen lassen, als uns die Albae angriffen …«
»Ich habe es«, unterbrach er sie.
»Sie dürfen das Buch nicht erhalten!«, schärfte sie ihm ein. »Bringe es nach Ionandar und gib es dem Magus! Er wird verstehen, wenn er den Brief meines Geliebten liest.« Der Druck der Skelettfinger nahm wieder zu. »Schwöre es!«
Tungdil stotterte einen Eid auf Vraccas und seinen Ziehvater. Die skelettierte Elbin schien zufrieden und kroch von ihm weg.
»Schlage mir den Kopf ab«, bat sie leise. »Ich will das Wenige, das ich von meiner Seele noch besitze, nicht an das Tote Land verlieren.« Die Herrin Grünhains breitete ihre Knochenarme aus. »Sieh, was sie aus mir gemacht haben. Soll ich für alle Ewigkeit umherirren und den Befehlen des Bösen folgen?« Die finsteren Löcher in ihrem Antlitz bannten ihn.
»Ich …«
»Alles, was mir lieb und teuer war, nahmen sie mir. Meine Liebe, meine Schönheit, mein Zuhause und meinen Wald.« Sie hob die Linke, streckte den Zeigefinger und schob ihn zögerlich in die leere Augenhöhle. »Ich kann nicht einmal um das Verlorene weinen. Habe Mitleid.«
Tungdil konnte die grenzenlose Traurigkeit in ihrer Stimme und ihren Anblick nicht länger ertragen. Zitternd erhob er sich, stapfte auf sie zu und holte mit seiner Axt Schwung. Als ihr abgetrennter Kopf in die Trümmer des Hauses rollte, zerfiel ihr Skelett. Die Elbin war endgültig tot.
Der Wald ächzte auf. In das hundertfache Knarren und Knacken mischte sich der Kampflärm, der den Zwerg an die Zwillinge erinnerte, die sich immer noch ein erbittertes Gefecht mit der Albin lieferten.
Das Tote Land! Sie wissen es noch nicht! Tungdil raffte sich auf. Wir müssen den Leichen die Köpfe abschlagen, sonst kehren sie als Untote zurück.
Boëndal und Boïndil standen indes einer Widersacherin gegenüber, die gar nicht daran dachte, nach den Regeln der Zwerge zu fechten. Die Albin war flink wie eine Katze, hopste, sprang und tauchte unter ihren Schlägen hinweg; doch es gelang ihr nicht, durch die verstärkte Panzerung der Zwillinge zu dringen.
»He!« Tungdil machte einen großen Ausfallschritt und schleuderte seine Axt nach der Gegnerin. Sie bemerkte das heranfliegende Geschoss und wich behände zur Seite aus.
Plötzlich tauchte Gorén hinter ihr auf und schlug mit seinem Holzbalken nach ihr. Sie hörte zwar das warnende Pfeifen des Windes, konnte einen Zusammenstoß jedoch nicht mehr verhindern.
Der Balken traf sie in den Rücken und katapultierte sie nach vorn, wo ihr Boïndil irrsinnig lachend mit den Beilen entgegenkam, die dünner gepanzerten Oberschenkel anvisierend. »Komm runter zu mir, Schwarzauge!«
Sein Angriff saß. Schwer getroffen schrie die Albin auf, da bekam sie die flache Seite von Boëndals Krähenschnabel in den Bauch. Sie verstummte und schwieg endgültig, als ihr die Beile durch den Hals fuhren.
»Das war nicht notwendig, Zauberer. Wir hätten das Spitzohr schon allein klein gekriegt«, sagte Boïndil beleidigt zu Gorén, der auf ihn zugewankt kam. »Warum lebst du eigentlich noch?«, wunderte er sich im nächsten Atemzug.
»Wir stehen auf dem Toten Land! Es hat ihn nicht sterben lassen. Du musst ihn köpfen, nur so vergeht er endgültig«, rief Tungdil.
»Wenn das so ist«, grummelte der Kämpfer und unterlief den tapsigen Versuch des Untoten, ihn zu schlagen. Ein Beil blitzte auf, und Goréns Kopf rollte zu Boden. Der Zauberer war tot.
»Wenn wir schon gerade dabei sind, sollten wir auch mit dem Rest aufräumen«, empfahl Boëndal und nickte die Straße hinab.
Die verbrannten Überreste der Orks und der Bewohner Grünhains begannen sich auf Geheiß der finsteren Macht zu erheben. Sie unterschied nicht zwischen Angreifer und Opfer, doch die Zwillinge gingen mit großer Umsicht zu Werke. Sie stellten einen Wiedergänger nach dem anderen, um ihn zu köpfen und damit von seinem Schicksal zu erlösen. Tungdil beschränkte sich aufs Zusehen.
»Das war zu einfach«, maulte Boïndil, als sie ihre widerliche Arbeit vollendet hatten. »Aber es reichte aus, um mir die Wut aus dem Leib zu treiben.« Das Flackern in seinen Augen ließ allmählich nach. »Gehen wir.«
Eilig marschierten sie durch das, was einmal Grünhain gewesen war, in Richtung Süden.
Die kahlen, nackten Bäume gewährten ihnen freien Durchgang. Es schien eine letzte Gefälligkeit für diejenigen zu sein, die wenigstens einen der Albae vernichtet hatten, welche Tod und Verderben über die friedliche Siedlung gebracht hatten. Die Stämme und Äste knackten und knarrten, sie neigten sich nach unten, rieben drohend aneinander, mehr taten sie jedoch nicht.
Die einzigen Laute, die sie sonst noch vernahmen, waren das Knistern und Rascheln des verdorrten Laubs unter ihren Stiefelsohlen. Von den vielen Tieren fehlte jede Spur, kein einziger Vogel wagte es mehr, die Stimme zum Gesang zu erheben.
»Es ist wichtig, dass ich zuerst zu Lot-Ionan reise«, erzählte ihnen Tungdil und gab in knappen Worten die Anweisung der Elbin wieder. »Das Tote Land und die Orks dürften nicht so weit nach Westen vorgedrungen sein. Mein Magus muss es erfahren und die Bücher erhalten. Sie scheinen sehr wichtig zu sein.«
»Ionandar? Das bedeutet einen Umweg von sechshundert Meilen«, meinte Boëndal wenig begeistert. »So kommen wir noch später in das Reich der Zweiten.«
»Es geht nicht anders«, erwiderte Tungdil störrisch. »Oder wir gehen nach Lios Nudin, um beim Rat vorzusprechen.«
Boïndil lachte. »So ist’s recht, zeig uns deinen Sturkopf, wie es einem Zwerg gebührt.«
Sein Bruder lenkte ein. »Na, schön, gehen wir nach Lios Nudin. Der Großkönig hat so lange gelebt, da wird er diese paar Umläufe auch noch überstehen. Vraccas schenkt ihm sicherlich die notwendige Ausdauer.« Er langte nach seinem Wasserschlauch.
»Du hast dich übrigens wacker gehalten, dafür, dass du gar nicht gelernt hast, mit der Axt umzugehen«, lobte ihn Boïndil. »Aber ein Zwerg, das merke dir, wirft seine Waffe niemals, wenn er keine zweite dabei hat. Und dein Kampfstil ist noch steigerungswürdig. Ich werde dich unterweisen, wie man die Axt schwingt, Tungdil, und bald werden die Schweineschnauzen vor dir ebenso viel Angst haben wie vor mir.«
Dagegen hatte er nichts einzuwenden. »Je eher ich damit umgehen kann, desto besser.«
Boëndal stimmte abends, als sie gezwungenermaßen rasten und sich erholen mussten, eine neue Zwergenweise an, die von der alten Feindschaft der Elben und Zwerge handelte. Er verstummte, als er die Blicke Tungdils bemerkte. Ein Lied über Tod und Verderben sorgte nicht dafür, dass seine Laune sich hob.
»Was wisst ihr über meinen Stamm?«, fragte er sie.
»Die Vierten?« Boëndal kratzte sich am Bart und packte ein Stück Käse aus, um ihn wieder über dem Feuer zu rösten. »Sie haben zwölf Clans, die meisten sind kleiner, schmächtiger, ein bisschen verweichlicht. Das kommt davon, dass ihr Handwerk das Edelsteinschleifen ist.« Er musterte Tungdil. »Na, du passt. Sie haben zwar keine Gelehrten in ihren Reihen, aber sie haben ungefähr deine Statur … obwohl, nein, du bist fast schon zu kräftig. Dein Kreuz ist zu breit.« Er dachte über seine Worte nach. »Das sage ich nicht, um dich zu beleidigen. Es ist einfach so«, erklärte er freundlich. »Vraccas hat uns so gemacht, wie wir sind.«