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Tungdil gab sich mit der Antwort nicht zufrieden. Sie war so allgemein, dass sie für ihn nichts Neues darstellte. »Ist das alles?«

Die Zwillinge wechselten Blicke.

»Die Zwergenreiche haben zu lange schon nichts mehr voneinander gehört«, antwortete ihm Boëndal ehrlich. »Wir wissen wenig. Warte ab, bis du sie selbst triffst. Aber ich kann dir etwas über die Zweiten berichten. Unsere siebzehn Clans sind die begnadeten Steinmetzen unter den Stämmen. Die Feste Ogertod wird dir den Atem rauben. So etwas hast du noch nie gesehen! Selbst die größte Burg der Langen kann es damit nicht aufnehmen.«

Boëndal geriet immer mehr ins Schwärmen und lobte die Pracht der steinernen Bauten, die viele andere Stämme vor Neid erblassen ließen. Tungdil hing an seinen Lippen und freute sich, die Monumente seines Volkes bald mit eigenen Augen sehen zu dürfen.

Das Geborgene Land, Lios Nudin im Jahr des 6234sten Sonnenzyklus, Sommer

Sie liefen Tag um Tag, um in die Hauptstadt zu kommen und vor der Versammlung der Zauberer vorzusprechen.

Zuerst hatte Boïndil darauf bestanden, dass sie aus Gründen der Sicherheit neben dem Weg liefen. Nach vier Tagen im Unterholz hatten sie genug von kratzenden Ästen, Dornenranken, die sich in ihren Kettenhemd verfingen, und störenden Zweigen, die auf unerklärliche Weise stets Tungdils Nase oder seine Augen trafen. Sie kehrten auf die staubige Straße zurück, immer darauf achtend, wer sich ihnen näherte.

Die Geschehnisse hinterließen Spuren an Tungdil, er hatte Albträume, und als er sich unterwegs über einen Bach beugte, um Wasser für seinen Trinkschlauch zu schöpfen, erschien ihm sein Gesicht älter, reifer und die braunen Augen ernster als zu Beginn seiner Wanderschaft. Das erlebte Grauen hatte ihn gezeichnet.

Da er nicht beabsichtigte, Opfer eines Orks zu werden, gab er sich bei den täglichen Kampfübungen mit Boïndil große Mühe und lernte rasch, fast zu rasch, wie ihm sein Lehrer sagte. Boëndal saß daneben, wenn sie Schläge, Paraden und Finten exerzierten, schmauchte ein Pfeifchen und betrachtete ihn sehr genau, sagte aber nichts.

Wo immer das Dreiergespann auf Menschen und Siedlungen traf, da berichtete Tungdil von den Geschehnissen im Grünhain und warnte die Menschen davor, sich nahe an die Grenze zum Toten Land zu begeben.

Untermauert wurden seine Erzählungen von den Wagenzügen der Flüchtlinge, die täglich die Straße entlangrollten und sich auf das Gebiet von Lios Nudin retteten. Die Orks waren auch an weiteren Stellen aufgetaucht, und die Menschen trauten Nudin dem Wissbegierigen eher zu, der vordringenden Macht widerstehen zu können, als König Bruron.

Gegen Nachmittag fiel Tungdil nahe einer Wegbiegung ein paar Schritte zurück; das war das Zeichen, dass er in aller Ruhe seine Notdurft verrichten wollte. Die Zwillinge schlenderten weiter.

Als Tungdil erleichtert auf die Straße zurückkehrte, gelangte er an eine Kreuzung, aber von den Zwergen entdeckte er keine Spur. Ein Schild wies ostwärts nach Porista, daher trabte er in diese Richtung los.

Bald entdeckte er einen hölzernen, bunten Wohnwagen, der schräg neben dem Weg stand. Auf den Wänden prangten aufgemalte Scheren, Messer, Beile und Äxte, die Zugtiere waren ausgespannt, das Gefährt hastig abgestellt worden.

»Ho?« Die Tür am Heck schloss nicht richtig und gewährte einen schmalen Einblick in das finstere Wageninnere. Das erschien ihm dubios. »Seid Ihr wohlauf?«

Vorsichtshalber griff er nach seiner Axt. Womöglich war der Besitzer des Wagens Opfer von Orks geworden, und die Plattnasen hielten sich immer noch in der Nähe auf. Wo stecken Boïndil und Boëndal?

»Hallo?«, rief er nochmals und betrat die schmale, zweistufige Holzleiter, die zum Eingang führte. Er schob die Tür mit dem Axtkopf auf und blickte in eine kleine Werkstatt. Die Schubladen waren herausgezogen, die Türen der Spinde geöffnet, in der hinteren Ecke der Gefährtes sah er zwei Schuhe unter einem Schrank hervorschauen.

Tungdil betrat den Wohnwagen. »Sprecht mit mir. Ich will Euch nichts Böses.« Es roch metallisch, süß. Blut. Er ahnte, dass wer auch immer vor ihm lag, nicht mehr unter den Lebenden weilte. Nun war er sich sicher: Die Götter verfluchten seine Wanderung, anders ließen sich die ständigen furchtbaren Geschehnisse um ihn herum nicht erklären.

Er verstaute seine Waffe im Gürtel, seine Hände berührten die Stiefelsohlen und rüttelten an ihnen. »Seid Ihr verletzt?« Weil keine Reaktion erfolgte, stemmte er den Schrank in die Höhe, um den Eingeklemmten zu befreien. Da bemerkte er, dass es sich um den Körper eines Zwerges handelte, und zwar nur um den Körper. Unbekannte hatten ihm den Kopf abgetrennt, vom Schädel fehlte jede Spur, die Wundränder am Hals schimmerten noch feucht und waren kaum getrocknet. Die Mordtat musste sich vor nicht allzu langer Zeit ereignet haben.

»Was, bei Vraccas, geht hier vor?« In seinem Schrecken glitt ihm der Schrank aus den Händen und fiel auf die Leiche. Tungdil wich zurück und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er bedauerte den fahrenden Zwerg, der mit seiner rollenden Schmiede das Opfer von brutalen Verbrechern geworden war. Die Gier der Menschen nach Gold und Münzen hatte sein Schicksal besiegelt.

Ich sollte ihn nicht so liegen lassen, sagte er sich, packte die Füße und zerrte den Leichnam unter dem Schrank hervor, als etwas klirrend auf die Holzdielen fiel.

»Nanu?« Er betrachtete den Gegenstand genauer. Es war ein blutbesudelter Dolch, und wenn ihn das Zwielicht nicht zu sehr trog, handelte es sich um die Waffe des Söldners, dem er vor Wochen auf dem Gehöft das Pferd beschlagen hatte.

Tungdil hörte Hufgetrappel. Vorsichtig lugte er aus dem schmalen Fenster, einen derben zwergischen Fluch auf den Lippen. Fünf Gerüstete erreichten soeben den Wohnwagen, also blieb er stehen und presste sich hinter die Tür gegen das Holz. Gegen die erfahrenen Kämpfer würde er zweifellos als Verlierer dastehen, daher musste er sich verbergen, wollte er überleben. Noch fühlte er sich nicht bereit, gegen eine Übermacht zu bestehen, wie es Boïndil und Boëndal spielerisch gelang.

Schwere Schritte näherten sich dem Gefährt, Stiefel betraten die knarrende Leiter, der Wagen wippte, dann schob sich ein Schatten vor das Licht, das durch den Eingang fiel.

Der Zwerg packte den Axtstiel mit beiden Händen.

Der Mann murmelte etwas und ging neben dem Toten in die Hocke. »Es war jemand hier«, rief er. »Der Kurze liegt anders da als vorher. Passt auf, dass mich niemand überrascht.« Er suchte nach seinem Messer. »Und versteckt den Honigtopf mit dem Kopf darin gut«, befahl er. »Ich möchte niemandem erklären, warum wir den hässlichen Schädel eines Unterirdischen darin aufbewahren.«

»Das ist doch einfach. Weil es Gold dafür gibt«, lachte einer seiner Kumpane von draußen rau.

»Das geht niemanden was an«, antwortete der Mörder. »Es ist schon schwierig genug, an die Kerlchen heranzukommen, da brauchen wir keine Nebenbuhler.« Er entdeckte den Dolch. »Da bist du ja.« Gründlich wischte er ihn an den Kleidern des Getöteten ab, verstaute ihn in der Scheide und erhob sich.

Seine Rüstung reflektierte den Sonnenschein, der durch das Seitenfenster hereinleuchtete, und der Strahl traf auf die Schneide von Tungdils Axt, die prompt aufblitzte. »Was …« Der Mörder drehte sich um.

Tungdil musste handeln, solange er durch die Überraschung noch einen Vorteil besaß. Er sprang nach vorn, stieß die Schneide nach unten und fuhr durch das Leder in den Fußknochen des Mannes. In seiner Aufregung schlug er so stark zu, dass die Axt in den Bodenbrettern stecken blieb. Mit aller Kraft zog er sie heraus.

Der Krieger schrie laut auf. Spätestens jetzt wussten seine Begleiter, dass etwas nicht stimmte.

»Das hast du davon.« Der Zwerg riss die Klinge aus dem Holz und flüchtete. Er hüpfte aus dem Wagen und brüllte dabei laut herum, um die Pferde scheu zu machen.