»Dann sollte sie eher Dunkle Pforte heißen«, meinte Tungdil.
»Bislang konnten wir die Hohe Pforte mit wenigen Zwergen gegen jede noch so große Übermacht zu verteidigen.«
»Habt ihr Portale wie die Fünften?«
»Nein. Unsere Ahnen hoben einen einhundert Schritt tiefen Graben auf vierzig Meter Länge aus. Auf ihrer Seite bauten sie eine dicke Festungsmauer, die mit einer mechanischen Brücke versehen ist. Die Ingenieure tüftelten so lange an deren Konstruktion wie die Arbeiter benötigten, die Senke aus dem Stein des Blauen Gebirges zu schlagen«, berichtete Boëndal versonnen von dem technischen Meisterstück. »Sie fügten dünne, verschiebbare Steinplatten zu einem federleichten und dennoch granitharten Übergang aneinander. Dabei schoben sich zusätzliche Stützsäulen aus dem Boden des Grabens, damit die Brücke von unten genügend Halt bekam. Die Verbindung ist so gebaut, dass wir sie jederzeit mithilfe von Ketten, Zahnrädern und Seilen wieder zurückfahren können.«
»Das ist …« Tungdil war sprachlos. »Ich kenne kein Volk, das jemals eine gleichartige Brücke gebaut hätte. Aber was, wenn es die Orks und Oger auf den Steg schaffen?«
»Wir können sie jederzeit zum Einsturz bringen. Im Graben liegen die Überreste der Scheusale Tions, die vergeblich versucht haben, das Hindernis zu überwinden.« Er lachte leise. »Sie haben es sogar mit Katapulten versucht und ihre Krieger auf die andere Seite geschossen. Diejenigen, die den Aufprall überlebten, scheiterten an unseren Äxten.«
Tungdil stimmte in die Heiterkeit ein. »Ich hätte versucht, den Graben aufzufüllen. Oder runterzuklettern und auf der anderen Seite wieder hochzusteigen«, meinte er grübelnd.
»Darauf sind sie auch gekommen, aber es war ebenso aussichtslos. Nur ein einziges Mal gerieten wir in eine vergleichbare Bedrängnis wie der tapfere Giselbart mit seinen Verteidigern«, berichtete Boëndal aus den alten Schriften seines Stammes. »Ein Heer aus Ogern versuchte erst gar nicht, einen Überweg bauen zu wollen. Sie hatten den gleichen Gedanken wie du, sie kletterten vorsichtig auf den Boden des Grabens und wühlten sich durch die Knochen ihrer längst gestorbenen Artgenossen, bis sie auf der anderen Seite zu hunderten emporkletterten.«
»Aber ihr habt sie aufgehalten.«
»Sonst hieße die Feste ja wohl Zwergentod und nicht Ogertod«, nörgelte Boïndil. »Ihr könntet leiser reden, ich brauche meinen Schlaf.« Er wälzte sich zu ihnen herum und schaute ins Feuer. »Nein, ihr habt es geschafft, ich bin wieder wach.«
Er packte ein Stück Käse aus und garte es über dem Feuer. Dieses Mal nahm es Tungdil an, als es ihm angeboten wurde. Der Geschmack war doch besser, als er anfangs gedacht hatte.
»Jedenfalls«, nahm Boëndal den Faden wieder auf, »hätten die Bestien um ein Haar die Festungsmauer gestürmt, wenn der Zweite ihre Anführer nicht erschlagen hätte und die Oger gewusst hätten, wie sie daraufhin vorgehen sollten. Das genügte unseren Ahnen, um die Gegner mit einem Überraschungsausfall zurück in die Senke zu treiben, wo sie zu Tode stürzten. Aber das geschah, als wir beide noch kleine Windelscheißer waren. Seit mindestens drei Dekaden sind überhaupt keine Scheusale mehr an der Hohen Pforte gewesen«, endete er.
»Es hat sich herumgesprochen, dass wir beide dort Wache halten«, rief sein Bruder laut und lachte. »Weil es so ruhig war, hat uns der Großkönig auf die Suche nach dir geschickt, um dich als Thronanwärter in die Festung zu holen.« Er schaute über die Flammen hinweg zu Tungdil, und seine braunen Augen blitzten auf. »Du hattest übrigens Recht: Ich bin für den Kampf geboren, ich gehe ihm nicht aus dem Weg, denn es ist meine Bestimmung, ein Krieger zu sein.«
»Er ist mein Bruder, ich werde ihn nicht allein lassen. Wir sind ein Zweigestirn und werden es auch bleiben. Immer. Wo einer ist, findet sich auch der andere.«
»Also verfügt jeder Zwerg über eine … Bestimmung, was er einmal tun wird«, fasste Tungdil zusammen. Er war gespannt, was er wohl einmal sein würde. »Werde ich ein einfacher Arbeiter, der Stollen gräbt, oder schlummert in mir die Befähigung, es zu einem meisterlichen Handwerker zu bringen?«
»Die Vierten sind die Edelstein- und Diamantschleifer. Hast du ein besonderes Händchen für Geschmeide?«, fragte ihn Boëndal.
Seltsamerweise hatte Tungdil sich zu keiner Zeit besonders von den schillernden Schmuckstücken angezogen gefühlt. Lot-Ionan besaß einige Kleinodien mit Saphiren und Rubinen, Brillanten und Amethysten. Tungdil hatte sie gern betrachtet, weil sich das Licht in ihnen wunderschön brach, doch er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, einen unansehnlichen Rohdiamanten schleifen und zur Geltung bringen zu wollen.
»Ich glaube nicht. Ich erinnere mich, dass ich die Schmiede von Anfang an, seit ich richtig laufen und denken konnte, anziehender fand«, meinte er nachdenklich, und eine Spur Enttäuschung schwang in seiner Stimme. »Das Flackern der Glut, die den Eindruck macht, als lebte sie, der Geruch von heißem Eisen, das Klingen des Schmiedehammers und das Zischen, wenn das Eisenstück zum Abkühlen ins Wasser taucht – das war bisher meine Zwergenwelt.«
»Dann wirst du eben ein Schmied«, meinte Boïndil zufrieden. »Ein gelehrter Schmied. Auch gut. Und sehr zwergisch.«
Tungdil kroch dichter ans Feuer und lauschte in sich hinein. Er dachte an Berge von Diamanten, dann an die tanzenden, orangefarbenen Feuerpünktchen, die den Kamin hinaufwirbelten. Die Esse sagte ihm wesentlich mehr zu. Und Gold. Er liebte das sanfte, warme Gelb, in dem das Metall schimmerte.
»Ich sammele jedes noch so kleine Stückchen herrenloses Gold«, berichtete er murmelnd. »Goldmünzen, Schmuckstücke, sogar kleine Goldkörnchen, die einem unachtsamen Goldsucher aus der Tasche gefallen sind, klaube ich vom Boden auf.«
Die Krieger lachten. »Du hast dir einen eigenen kleinen Hort angelegt. Wenn das nicht sehr zwergisch ist, küsse ich eine Schweineschnauze«, nickte Ingrimmsch. »Bis wir bei uns sind, mache ich einen Krieger aus dir, wie wäre es damit?«, bot er ihm an und nahm sich die Pfeife.
»Ich glaube, daraus wird nichts. Gegen eine Überzahl wie ihr …«
»Es gibt keine Überzahl«, widersprach der andere sogleich, »nur größere und kleinere Herausforderungen, merke es dir.«
»Dann lass es mich so sagen. Für mich wird es immer deutlicher, dass ich hinter einen Amboss gehörte, wo ich schmieden darf. Das macht mich glücklich.« Tungdil beschloss, sich vorerst nicht mehr mit derlei Fragen zu beschäftigen. Stattdessen zog er den Rucksack, in dem die in Wachspapier eingeschlagenen Bücher Goréns ruhten, zu sich und packte sie vorsichtig aus. Die Zwillinge schauten ihm zu.
»Und? Was steht drin, Gelehrter?«, wollte Boïndil wissen. »Vielleicht ist das deine Aufgabe? Du wirst Ingenieur oder Schriftweiser. Wir Zwerge haben große Ingenieure.«
»Ich kann es nicht entziffern.« Enttäuschung machte sich in ihm breit, als er bereits am Lesen der Einbandschrift scheiterte. »Es muss sich um Werke handeln, die für hohe Magi gedacht sind.« Der Zwerg wunderte sich, wie Lot-Ionans einstiger Famulus diese Silben überhaupt hatte entziffern können.
Tungdil klopfte sich gegen die Stirn und schalt sich selbst kobolddumm. Die Elbin, die Herrin des Grünhains! Sie war gewiss in der Lage gewesen, ihm die Geheimnisse der Magie zu erklären und ihm bei der Übersetzung der Bücher zu helfen.
Seine Finger strichen erkundend über die ledernen Buchdeckel. Was beinhaltet ihr, dass euch die Albae nicht bekommen dürfen?, fragte er sie stumm. Seit wann fürchten sich die bösen Verwandten der Elben vor einem Schriftstück?
»Wir müssen warten«, vertröstete er sich und die Zwerge. Als er die Bücher mit viel Sorgfalt in ihre schützende Hülle steckte, fiel sein Blick auf den Ledersack mit den Artefakten. Man sah der widerstandsfähigen Tierhaut an, dass sie einiges erlebt hatte. Sie war von der Sonne gebleicht und bekam feine Maserungen; hier und da hoben sich dunkle Flecken ab, die von seinem Schweiß oder fettreichem Proviant stammten, mit dem das Leder in Berührung gekommen war. Der Schwerthieb des Orks hatte sich als hellbraune Linie verewigt und dem Sack eine echte Narbe beigebracht.