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Je länger Tungdil auf das Leder starrte, umso mehr wünschte er sich, einen Blick hineinzuwerfen. Gegen den Drang, das bunte Bändchen zu entfernen und hineinzuschauen, kämpfte er schon lange.

Was soll’s. Gorén ist tot, und ich will wissen, was ich quer durch das Geborgene Land schleppe. Seine Unbeherrschtheit siegte.

Mit unbeteiligtem Gesicht langte er nach dem Behältnis, um bei den Zwillingen nicht den Eindruck zu erwecken, dass er gegen die Anweisungen seines Magus handelte. Geschickt nestelte er den Knoten auf, und die Enden glitten auseinander.

Augenblicklich erschallte ein durchdringender, Mark erschütternder Ton. Kleine Leuchtkugeln schossen knatternd in die Luft und explodierten bunt.

»Bei Vraccas’ Hammer und allen leuchtenden Feuern seiner Esse!« Boïndil und Boëndal sprangen auf, stellten sich Rücken an Rücken und rissen die Waffen aus den Gürteln.

Tungdil fluchte und band den Riemen rasch zusammen. Das Spektakel hörte erst auf, als er den Behälter wieder mit dem gleichen Knoten verschnürte. Er war auf eine Sicherung Lot-Ionans hereingefallen. Der Magus hatte mit seiner Neugier gerechnet und ihm eine Lektion erteilt.

»Was bei allen Gebirgen des Geborgenen Landes war das, Gelehrter?«, verlangte Boëndal missvergnügt zu wissen. »Magischer Firlefanz?«

»Ich wollte nur sehen, ob … die magische Falle nach so langer Zeit noch funktioniert«, antwortete er und zwang sich, nicht zu schnell zu atmen. Der Schreck saß ihm mindestens genauso in den Gliedern wie den Zwillingen. »Es ist gegen … Diebe, die den Sack stehlen wollen.«

»Das kleine Ding hat den Lärm veranstaltet?!« Ingrimmsch schaute ungläubig auf das Leder. »Welchen Zweck hat das Spektakel? Soll der Dieb damit die Umstehenden unterhalten und Goldmünzen verdienen können?«

»Nein. So höre und sehe ich immer, wo er ist, und kann mir mein Eigentum zurückholen«, dachte Tungdil sich eine schmeichelhaftere Erklärung aus, weil er nicht eingestehen wollte, dass die Vorrichtung gegen seine Wissbegier gerichtet war.

»Wäre es dann nicht geschickter, er hätte einen Zauber auf das Ding gesprochen, der den Diebstahl verhindert?«, knurrte Boïndil und spuckte aus. »Die Magie der Langen, pah. Ist nichts, taugt nichts.«

Sein Bruder ging auf sein Schimpfen ein. »Ein Hammer müsste herauskommen und dem Schurken auf den Kopf hauen«, meinte er grinsend.

»Oder ihm die Hände zerquetschen, damit er sich nie wieder an fremdem Eigentum vergreift«, fügte Boïndil hinzu.

Boëndal setzte sich wieder. »Verstehe einer die Magi. Da haben sie so viel Macht und denken nicht an die einfachsten Dinge.«

Tungdil schluckte. Er war seinem Ziehvater dankbar, dass er eine solche brutale Strafe nicht vorgesehen hatte. »Ich werde ihm deine Vorschläge unterbreiten«, nickte er ihnen zu.

»Das können wir ja selbst tun.«

»Nein«, wehrte er rasch ab. »Nein, ich sage es ihm. Er mag keine Vorschläge. Von Fremden.« Sein Kopf fühlte sich heiß an, und er wurde rot; glücklicherweise schauten seine Begleiter nicht zu ihm, sondern versuchten, den ins Feuer gefallenen Käse mit einem Stöckchen vor den Flammen zu retten.

»So ein Radau hätte uns in Grünhain das Leben kosten können«, brummte Boïndil. »Lass die Finger von dem Band«, empfahl er ihm nachdrücklich. Seufzend barg er sein Abendessen aus der Glut, tunkte das Käsestück kurz in seinen Wasserbecher, um die Asche zu entfernen, und steckte es sich in den Mund. »Glück gehabt«, meinte er.

Tungdil war der Vorfall jedenfalls eine Lehre. Ich werde den Sack nur noch anfassen, um ihn auf die Schulter zu heben oder abends abzustellen. Von mir aus kann ein Schatz drin sein, es ist mir gleichgültig.

VII

Das Geborgene Land, Lios Nudin im Jahr des 6234sten Sonnenzyklus, Sommer

Rantja schaute über die Menschenmenge. Die einhundertachtzig besten Famuli der Zauberreiche standen wartend in der Vorhalle des Palastes, um von Nudin dem Wissbegierigen empfangen zu werden. Ihre Magi und Magae hatten sie nach Lios Nudin befohlen, um ihnen im Kampf gegen das Tote Land beizustehen. Ungeduldiges Gemurmel erfüllte den hohen, weiten Raum.

»Es scheint schlimm um die magischen Barrieren zu stehen, wenn selbst die Zauberschüler anrücken müssen, um zu helfen, die finstere Macht aus dem Norden zu bezwingen«, sagte ein Famulus neben ihr. »Du wirst immer hübscher, Rantja.«

»Jolosin!«, rief sie freudig und reichte ihm die Hand. Da bemerkte sie die neue, dunkelblaue Robe. »Oh, du bist in die vierte Stufe aufgestiegen. Hast du Lot-Ionan so lange geärgert, bis er nicht mehr anders konnte?«

»Und dich hat Nudin mit deinen zweiunddreißig Zyklen gleich in die fünfte Stufe gehoben? Ich bin beeindruckt«, erwiderte der dunkelhaarige Mann flachsend und anerkennend zugleich. »Geht es dir gut?«

»Sehr«, lächelte sie, doch dann wurde sie ernst. »Bis auf die Nachricht, dass das Tote Land mehr an Macht gewinnt.« Sie bemerkte zahlreiche kleine Schnitte in seinen Fingern. »Wie ist denn das passiert?«

Er winkte ab. »Frag nicht. Aber es sei dir gesagt, dass ich an einem Zauber für Kartoffelschälen arbeite«, antwortete er missmutig. »Ich bin froh, endlich von den Kochtöpfen wegzukommen und etwas Sinnvolles zu tun.« Er blickte sich um. »Hast du die Großmeister schon gesehen?«

»Sie sind ebenso verschwunden wie mein Magus«, antwortete Rantja besorgt. »Weißt du mehr?«

»Alles, was ich erhielt, war die Botschaft, dass ihre Beschwörungszeremonien volle Aufmerksamkeit verlangen, und daher werde man das Wiedersehen vorerst verschieben«, meinte er unzufrieden und nahm den ledernen Sack mit den Artefakten von der Schulter; ein grünes Band hielt ihn verschlossen. »War es jemals so schlimm?«

Rantja schüttelte den Kopf.

Die Türen schwangen auf, und Nudin der Wissbegierige erschien, um sie willkommen zu heißen. Er wankte leicht, wirkte erschöpft und abgekämpft.

»Ich grüße euch«, rief er krächzend. Seine Stimme klang angestrengt und überschlug sich. Die Wartenden gewannen den Eindruck, als sprächen ein Mann und eine Frau gleichzeitig. »Heute ist ein schwarzer Tag für das Geborgene Land. Folgt mir und seht, was das Tote Land angerichtet hat.« Der Magus bedeutete den Schülern, ihn zu begleiten, und schritt vorweg.

»Ich kenne Nudin von früheren Begegnungen, und ich muss sagen, er hat sich ziemlich verändert«, raunte Jolosin Rantja zu. »Er muss mindestens fünfzig Pfund zugenommen haben und Schuhe mit dicken Sohlen tragen.«

»Ich weiß. Auf viele wirkt er größer als sonst.«

»Weitaus größer. Und massiger. Dass ein Mann in seinem Alter noch wächst, halte ich für ausgeschlossen. Was ist wohl geschehen? Ein fehlgeschlagenes Experiment?«

Sie liefen nun unmittelbar hinter Nudin und bemerkten einen süßlichen, fauligen Duft. Das Duftwasser, das der Magus verwendete, musste vergoren sein, was er anscheinend nicht wahrnahm.

Rantja trat auf etwas Rutschiges und glitt aus. Jolosin griff zu und verhinderte, dass es zu einem schweren Sturz kam. »Danke«, sagte die Famula schnell, und sie gingen weiter, weil die Nachfolgenden drängten. Und so sah auch keiner von ihnen den lang gezogenen, dunkelroten Strich auf den Steinplatten. Der Magus verlor Blut.

Das Ende seines Zauberstabs knallte in regelmäßigen Abständen laut auf den Steinboden. Nudin schritt zügig aus, um sie durch ein Gewirr von Arkadengängen und Räumen zu führen, bis sie vor einer weiteren doppelflügeligen Tür anhielten. Seine Linke hob den Stab, und der Onyx glomm düster auf.

»Seid stark«, sprach er zu ihnen und sagte die Silben, welche das Portal öffneten.

Die Türflügel glitten auseinander. Verwesungsgeruch strömte aus dem Raum dahinter, einige der Zauberlehrlinge würgten. Rantja wankte und lehnte sich an Jolosin, der sie tapfer stützte und gegen den Brechreiz ankämpfte.