Der Magus störte sich nicht an dem Gestank. »Seht, wie wichtig euer Beistand nun für das Geborgene Land geworden ist!« Er ging voran, die Famuli betraten zögernd den Raum.
Verstörte und entsetzte Rufe klangen auf, als sie die verschiedenen Überreste ihrer Mentoren erblickten. Eine Statue, ein Haufen Kleider, verwesende Leichname … Von Andôkai konnte man nicht einmal mehr die Züge erkennen, so stark war ihr Körper zersetzt.
»Bei Palandiell«, stöhnte Jolosin, als er die Statue sah, die einmal sein Lehrer gewesen war. Bei allem Groll, den er gegen ihn wegen der Strafe hegte, hätte er ihm ein solches Ende niemals gewünscht. »Wir sind verloren«, stammelte er und stellte die Ledertasche auf den Boden, die er auf Geheiß seines Mentors mitgebracht hatte. »Wenn sie nichts gegen das Tote Land …«
Nudins Zauberstab stieß kräftig auf den Boden, und die Gespräche verstummten. Alle Augen richteten sich auf ihn.
»Wir haben das Tote Land sträflich unterschätzt«, verkündete er mit zitternder Stimme. »Als wir den Kristallspeicher aufluden und die erste Phase der Zeremonie abschlossen, schlug der Schrecken aus dem Norden zu. Der Edelstein wurde gesprengt! Ich überlebte den Angriff mit Mühe.« Das Stabende deutete auf das, was von den Magi und Magae geblieben war, traurige Überbleibsel, stinkende Reste, verhöhnende Abbilder. »Ich habe gute Freunde verloren. Ihr seid deren Famuli, die Besten, die es im Geborgenen Land noch gibt.« Nudin hustete und würgte einen Klumpen Blut hervor, er wankte und lehnte sich an den zu Stein erstarrten Lot-Ionan. »Seht, ich leide noch immer unter dem Angriff. Wir müssen uns beeilen, um den Speicher wieder zusammenzufügen«, keuchte er angestrengt. »Nur so halten wir das Tote Land auf. Scheitern wir, sind die Menschen verloren. Ihr Heer wird den Schrecken niemals aufhalten.«
Die Zauberlehrlinge blickten sich ratlos an. Seine Worte und der Anblick der vernichteten Mentoren erschütterten sie bis tief in ihre Seele hinein.
»Die Fünf, die beinahe als allmächtig galten, wurden vom Toten Land besiegt«, raunte Jolosin niedergeschlagen. »Und wir sollen …«
»Wir müssen sie beerdigen«, sagte Rantja abwesend. »Wir können sie nicht im Raum liegen lassen, das ist ihrer nicht würdig.« Sie stockte und begann zu zittern.
»Reißt euch zusammen!«, beschwor der Magus sie. »Zunächst zählt, dass wir rasch handeln, um uns überhaupt eine Gelegenheit offen zu halten, etwas gegen unseren Widersacher auszurichten. Danach ist Zeit für die Toten.« Sein Stab beschrieb einen Kreis. »Stellt euch auf. Fasst euch bei den Händen und sprecht meine Worte nach«, befahl er.
Die Frauen und Männer folgten seinen Anweisungen. Rantja und Jolosin begaben sich Seite an Seite, die Berührung tat ihnen gut und gab ihnen Vertrauen.
Nudin legte seinen Stab vor sich auf die Platten und reihte sich neben dem Famulus Lot-Ionans ein. Seine Hände fühlten sich weich und klebrig an, und es kostete Jolosin viel Überwindung, die Finger nicht angewidert abzuschütteln. »Ehrenwerter Magus, ich habe die Artefakte dabei, die sich Lot-Ionan einst lieh.« Er schaute zu seinem Gepäck, und Nudin nickte knapp.
Dann begannen sie mit der gemeinschaftlichen Anrufung der Magie, die als gebündelte Form zu ihnen kommen und in die Splitter des Malachits fahren sollte.
Die Stunden verflogen.
Der Tag begann mit Regen. Starkem Regen.
Der Sommer, der nun mit aller Macht über das Geborgene Land eilte, überließ das Land für einige Stunden den Wolken, damit es nach der Trockenheit ordentlich Wasser erhielt.
Die Pflanzen freuten sich sicherlich über den Guss, die drei Zwerge jedoch nicht. Sie drängten sich missgelaunt unter einem Baum zusammen und warteten.
»Das ist der Grund, warum wir in Gebirgen leben«, beschwerte sich Boïndil, der die Gelegenheit nutzte, die Seiten seines Kopfes frisch zu rasieren. In den letzten Tagen war er immer unruhiger geworden. Sein Kriegerherz verlangte nach Orkfratzen, in die er schreien, spucken und schlagen konnte. Allerdings war es im Kernland Lios Nudins unwahrscheinlich, auf die Bestien zu treffen.
»Was tun wir, wenn er einen Anfall von Raserei bekommt?«, flüsterte Tungdil Boëndal heimlich zu. »Sollen wir auf einen Baum klettern?«
Der Zwerg, der gerade das Wasser aus seinem Zopf wrang, grinste von einem Ohr zum anderen. »Solange ich dabei bin, musst du nichts befürchten. Ich kann seine Ausbrüche so lenken, dass er sich an Unbelebtem austobt. Meistens zumindest.«
Sie beobachteten, wie Karren und Fuhrwerke die nicht weit entfernte Straße entlangrollten. Auf einem Kutschbock saß ein junges, verliebtes Paar, das mehr mit sich als mit den Ochsen beschäftigt war; die Tiere kümmerte es nicht, sie trotteten den Weg entlang.
Der Anblick der Verliebten brachte Lot-Ionans Helfer auf eine alte Ungewisse Frage. Er rang mit sich selbst, ob er die beiden Zwerge darauf ansprechen sollte; weil er ständig Fragen über sein Volk stellte, kam er sich unglaublich töricht vor. Zyklenlang hatte er umgeben von hunderten von Büchern gelebt und wusste die einfachsten Dinge über Zwerge nicht. Von wegen Gelehrter.
Doch alles Zaudern halft nichts, er benötigte Gewissheit. Tungdil vermied es, einen der beiden anzuschauen, und fragte: »Wie sehen Zwerginnen aus?«
Stille. Das Rauschen des Regens, der auf die Blätter ihres Unterstandes prasselte, wurde überlaut. Die Zwillinge ließen ihn schmoren.
»Hübsch«, kam es knapp von Boïndil.
»Sehr hübsch«, steigerte Boëndal die lakonische Beschreibung seines Bruders.
»Aha«, machte Tungdil.
Stille.
Der Schauer verlor an Kraft, das Plätschern verebbte und wurde durch ein beständiges leises Tropfen ersetzt; das Wasser rann von Zweigen und Ästen.
»Haben sie einen Bart?«, unternahm er einen zweiten Anlauf.
Stille.
Tungdil wunderte sich, wie viele Arten von Tropfgeräuschen es gab, wenn man genau hinhörte.
»Bart würde ich es nicht nennen«, begann Ingrimmsch.
»Eher einen Flaum«, umschrieb es sein Bruder. »Sehr anziehend.«
Stille.
Die Sonne bahnte sich einen Spalt durch das Dunkelgrau, und der Sommer kehrte sichtbar ins Geborgene Land zurück. Tungdil nahm Anlauf zu seiner nächsten, etwas heiklen Frage. »Zwerginnen und Zwerge …«
Die Geschwister wandten sich wortlos zu ihm um, Boëndal musterte ihn mitleidig. »Es wird dringend Zeit, dass er sein Volk trifft«, stellte er trocken fest und schaute zur Baumkrone. »Der Regen hat aufgehört. Wir gehen weiter.« Er stand auf, sein Bruder folgte ihm.
»Du hast nicht geantwortet!«
»Wir sind Krieger, keine Gelehrten. Außerdem war das keine Frage.«
»Sind sie auch Kriegerinnen?«
»Die meisten Zwerginnen unseres Stammes jedenfalls nicht«, sagte Boëndal, während sie nebeneinander her gingen. »Sie kümmern sich mehr um das häusliche Leben. Sie treiben die Tiere auf die Weiden der Täler, sie sorgen für gefüllte Vorratskammern und gutes Bier, machen unsere Kleidung.«
»Es kommt nichts Gutes dabei heraus, wenn Mann und Frau nebeneinander stehen und kämpfen«, brummte Ingrimmsch. Er klang, als hätte er schon entsprechende Erfahrungen gesammelt, doch der Unterton warnte Tungdil davor nachzuhaken.
»Hüte dich davor, ihre Künste zu beleidigen. Sie haben einen ebenso großen Stolz wie wir. Einige von ihnen reihen sich in die Galerie der besten Steinmetze und Schmiede ein. Ihre Hände führen die Meißel und Hämmer mit solcher Genauigkeit, dass ihre Rivalen bei Wettkämpfen aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.«
»Ausnahmen«, brummte Boïndil und machte keinen Hehl daraus, dass er nichts davon hielt, wenn Zwerginnen die Aufgaben eines Mannes übernahmen. »Sie sind bessere Herdfeuerwächter. Das ist ihre Bestimmung.«
Tungdil hatte aufmerksam zugehört. »Dann ist es so ähnlich wie bei den Menschen«, fand er. Er wurde immer neugieriger auf die Zwerginnen und freute sich sehr, einer von ihnen näher zu kommen.
Endlich trafen sie in Porista ein. Tungdil bestaunte die Türme und die Kuppeln des Palastes, aber die Zwillinge hatten nur ein müdes Lächeln für die Baukunst der Langen übrig, die der ihres Volkes wohl weit hinterher hinkte.