Tungdils heimliche Hoffnung, Lot-Ionan zu treffen und es sich sparen zu können, die Bücher und die zerstörten Artefakte weiterhin zu schleppen, erfüllte sich nicht. Sie erfuhren, dass die Magi und Magae schon vor Tagen aufgebrochen wären, um in ihre Länder zurückzukehren. Nudin der Wissbegierige empfing niemanden, daher blieb den drei Zwergen nichts anderes übrig, als zum Geduldigen nach Ionandar zurückzukehren.
Als sie an einer Nebengasse vorbeigingen, entdeckte Tungdil ein Pferd, das in einem Stall angebunden stand und ihm seltsam bekannt vorkam.
»Wartet.« Er schlenderte zu der Fuchsstute, denn er glaubte sich zu erinnern, das Tier beschlagen zu haben. Behutsam nahm er den rechten Vorderlauf und betrachtete das Eisen. Es trug seine Handschrift, die Form der Nägel war augenfällig. »Sie sind es«, wisperte er.
»Freunde von dir?«, erkundigte sich Boëndal, den Krähenschnabel locker geschultert. Sein Bruder fuhr sich prüfend über die kahlen Kopfseiten, um zu fühlen, wo noch Stoppeln standen.
»Wohl kaum.« Tungdil trat zu den prall gefüllten Satteltaschen, nahm einen Eimer, stülpte ihn um, stieg hinauf und reckte sich, um an die Lederriemen zu gelangen. Die Abdeckung klappte nach hinten, und der Zwerg tastete blind in der Tasche herum, bis er ein großes Glas fasste. Ruckartig zog er es hervor.
»Erinnert ihr euch an den toten fahrenden Zwerg?« Seine Ahnung trog ihn nicht. Er öffnete das Glas und erblickte den Kopf eines geschorenen Zwerges. Die Kopfgeldjäger hatten ihrem Opfer rücksichtslos die Haare gestutzt, damit der Schädel in den Behälter passte. Der Honig schloss den abgetrennten Kopf luftdicht ab und bewahrte ihn auf diese Weise vor der Zersetzung. Das letzte bisschen Blut waberte als rote Schlieren in der goldklaren Flüssigkeit. »Das sind seine Mörder.«
Kettenhemden klirrten und klingelten, dann standen die Zwillinge neben ihm. Keiner von ihnen sprach; sie starrten voller Entsetzen auf das, was ein Mensch von einem ihres Volkes nahm, um zu Gold zu kommen.
»Bei Vraccas! Ich werde sie in Scheiben schneiden!«, grollte Ingrimmsch. Die Wut schoss hinauf bis in seine Haarspitzen, die Beile flogen ihm von selbst in die Hand. »Lasst …«
Da schwang die Tür auf, die vom Stall ins Haus führte. Tungdil erkannte den Mann sofort wieder, dem Kopfgeldjäger ging es ebenso. Er blieb ruckartig stehen und starrte auf die drei Zwerge. »Verdammt!« Das Kräfteverhältnis erschien ihm nicht ausgewogen genug, deshalb drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand im Haus.
»Kämpfe, Feigling! Sogar die Schweineschnauzen taugen mehr als du!« Boïndil befand sich bereits auf dessen Fersen. Aus dem Innern des Gebäudes drang ein kurzer, aber heftiger Kampflärm, der mit dem schrillen Todesschrei des Söldners endete.
Tungdils Warnung erreichte den rasenden Ingrimmsch zu spät. »Er hätte lebend mehr genutzt!« Doch er machte dem Zwerg keinen Vorwurf. Boïndils angestaute Tobsucht blockierte die Vernunft und gab den Verstand erst frei, als er das Blut seines Gegners und den leblosen Körper wahrnahm.
»Warten wir eben«, bemerkte Boëndal trocken, »bis die anderen zurückkommen. Vier fehlen uns noch, wenn ich mich an deine Erzählung erinnere.« Tungdil nickte, und sie versteckten sich im Stall.
Die Söldner erschienen am frühen Abend; ihren Gesichtern nach zu urteilen hatten sie kein Glück gehabt und kehrten ohne Beute zurück.
Ingrimmsch stand schnaubend hinter dem Tor, die Beile in den Händen haltend, und wartete begierig, dass die Krieger eintraten; sein Bruder hatte den Strohhaufen gewählt und lauerte ebenfalls. Tungdil zog es vor, sich im Hintergrund zu halten. Eingespielt, wie Boïndil und Boëndal im Gefecht waren, behinderte er sie mehr, als er ihnen nutzte.
Als die vier im Stall standen und von den Pferden gestiegen waren, nickten sich die Zwillinge zu und stürmten los.
»Lasst einen von den Halunken am Leben!«, erinnerte Tungdil sie und folgte ihnen.
Einer der Krieger sah die Angreifer heranfliegen und langte an seinen Schwertgriff.
Er hatte seine Waffe zur Hälfte aus der Scheide gezogen, als ihn Boïndils Beil in die linke Hüfte traf; die Wucht des Schlages warf ihn gegen die Wand. Die zweite Schneide schnellte von schräg unten heran, durchschnitt Haut, Sehnen und zerschmetterte das rechte Knie. Brüllend knickte er zusammen.
Das sah Ingrimmsch nicht mehr. Er wusste, welche Wirkung seine beiden Hiebe hatten, und sprang bereits lachend auf den nächsten Gegner zu.
Sein Bruder kümmerte sich um die beiden anderen Mörder. Boëndal rannte mit gesenktem Haupt auf den vorderen seiner Widersacher zu, und der Krähenschnabel blitzte auf.
Dem Söldner gelang es noch, seinen Schild vom Pferd zu reißen und ihn schützend vor sich zu halten, doch er hatte die gewaltige Durchschlagskraft der Zwergenwaffe unterschätzt. Das spitze Ende drang durch den metallbeschlagenen Schutz und trat auf der anderen Seite dort wieder heraus, wo sich der Arm des Mannes befand. Was Holz und Metall besiegte, das störte sich auch nicht an Fleisch und Knochen. Der Söldner schrie auf.
Der Zwerg riss den Haken aus dem Blech, drehte die stumpfe Seite nach vorne und schlug nach dem ungeschützten Knie. Das Gelenk wurde unter dem gewaltigen Druck nach hinten gebogen und brach krachend. Der zweite Gegner war ausgeschaltet.
»Dir zeige ich, was es heißt, Zwerge feige zu ermorden!« Der von Wut besessene Ingrimmsch beharkte seinen Feind mit schnellen, tiefen Schlägen der Beile.
Tungdil sah, dass sich die Söldner alle Mühe gaben, die Hiebe ihrer rasenden Angreifer zu parieren, aber ihre verzweifelten Mienen sprachen Bände. Wo Angst war, folgte die Niederlage meist auf den Fuß, und so kam es.
Boïndil wirbelte die Beile, sodass der Söldner nicht wusste, von wo der Angriff erfolgen würde. In seiner Furcht wandte er sich um und versuchte, zu seinem Pferd zu gelangen.
Er konnte zwar schneller rennen als der Zwerg, war aber nicht flinker als der geworfene Krähenschnabel Boëndals.
Mit einem dumpfen Laut prallte die Waffe gegen seinen Rücken, als er sich in den Sattel schwingen wollte. Das schwere Ende brach seine Rippen und verzögerte seine Flucht. Das genügte Ingrimmsch, den Vorsprung auszugleichen.
»Du bist mir zu groß, Langer«, schnaubte er und durchtrennte dem Mann die Fersensehnen. Während der Kopfgeldjäger stürzte, hieb er ein weiteres Mal zu und tötete ihn mit zwei harten Treffern in die Schlüsselbeine.
Dann stand Boïndil vor dem vierten Söldner, der hinter dem Stroh kauerte. »Nun du!« Die Augen glitzerten voller Wahn, das Blut seiner Gegner haftete an vielen Stellen des Kettenhemdes. »An welchen Gott glaubst du? Palandiell? Samusin?«
Der Mann warf seine Waffe weg und reckte die Arme. »Ich ergebe mich«, rief er hastig.
Der Zwerg bleckte die Zähne. »Das ist mir gleichgültig«, knurrte er und schlug dem Wehrlosen die Beile in den Leib. Ächzend brach der Söldner zusammen. Er starb rasch, aber äußerst qualvoll, wie Tungdil an seinem Wimmern hörte.
Tungdil wandte sich um. Der Anführer, der von Boïndil zu Beginn des Gemetzels kampfunfähig gemacht worden war, lag in einer riesigen Blutlache und verlor zusehends an Lebenskraft. Er eilte zu dem Mann.
»Wer bezahlte euch euer Handwerk?«, verlangte er zu wissen. »Sag es uns, und wir retten dein Leben.«
»Oder wir schauen zu, wie du dich in deinem Blut wälzt«, drohte Ingrimmsch.
»Bei Palandiell, verbindet mich!«, hielt der Kopfgeldjäger dagegen und presste seine Hände gegen die Hüftwunde. Das Rot quoll so stark zwischen seinen Fingern hervor, dass Tungdil nicht glaubte, sein Leben retten zu können. Lot-Ionan wäre sicher dazu imstande gewesen, doch ein Verband brachte nichts.
»Sag es«, schrie ihn Boïndil aufgebracht an, »oder ich beende, was deine Mutter unter Schmerzen in die Welt setzte!« Doch der Mann starb, ehe er seine Drohung in die Tat umsetzen konnte.
Die Zwillinge drehten sich um und stapften auf den letzten Überlebenden der Mörderbande zu, dem die lange Spitze von Boëndals Waffe Schild und Hand durchbohrte.