Boëndal wollte ihn nicht allein gehen lassen. Sie waren Gäste der Menschen, und deshalb kam es auf ein einigermaßen anständiges Betragen an, was er seinem Blutsverwandten nicht unbedingt zutraute.
»Tungdil, wir suchen die Küche. Ich passe auf ihn auf«, rief er laut und lief Boïndil hinterher, der um die nächste Biegung des Ganges verschwunden war.
Die Zwerge hatten keinerlei Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Vraccas hatte es ihnen in die Steinwiege gelegt, sich unterirdisch bestens orientieren zu können, ganz gleich, ob sie jemals zuvor schon in der Umgebung gewesen waren oder nicht. Sie spürten, ob ein Gang leicht nach unten oder nach oben führte, sie bemerkten feine Richtungsänderungen und konnten einschätzen, in welche Himmelsrichtung sie liefen. In diesem Fall wurde ihr Weg nicht durch die Gestirne, sondern vielmehr durch den leckeren Geruch bestimmt.
Die Zwillinge passierten offen stehende Räume, in denen sich kein einziger Mensch aufhielt.
»Vielleicht sitzen sie alle beim Essen«, mutmaßte Boëndal und kämpfte mit dem aufsteigenden Unwohlsein.
Sie stampften durch den Gang, in dem der Geruch nach gebratenem Fleisch am intensivsten zu riechen war. Ihre Kettenhemden und Panzerteile klirrten leise, die dicken Sohlen der Schuhe trafen klackend auf den Boden des Stollens. Endlich erreichten sie eine Tür, die aufgrund ihrer verschiedensten Flecken ins Reich der Küchenmeister zu führen schien.
Boëndal wollte sich rasch nach vorn schieben, um den Köchen einen weniger lauten Aufritt zu bieten, aber Ingrimmsch hatte bereits die Hand auf die Klinke gelegt und drückte sie kräftig nach unten.
Der hohe Raum mit den vier verschiedenen Herdstätten war scheinbar ebenso verlassen wie der Rest der Behausung. Die Bewohner konnten noch nicht lange weg sein. Die Feuer brannten und heizten den Ofenplatten ein, und es zischte und blubberte in den großen abgedeckten Pfannen. Über den Flammen der beiden Kamine hingen bauchige Kessel, in denen Suppen brodelten. Vereinzelt tauchten Fleischstückchen an der braunen Oberfläche auf, ehe sie wieder in der Flüssigkeit versanken.
Boëndals ungutes Gefühl verstärkte sich, und er schaute sich sehr genau um. Leere Zimmer und volle Behälter gaben keinen Sinn. Was geht hier vor?
»Endlich sind wir richtig«, verkündete Boïndil gut gelaunt und nahm die Hand vom Beil, um sich ein Stück vom Brot abzubrechen. Zielstrebig ging er auf den vordersten der Herde zu. Er schob sich einen Schemel vor den Ofen, hob den Deckel ein wenig an und schaute, was ihm das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Es waren saftige Stücke, die in ihrem eigenen Sud garten. »Dann wollen wir mal.«
Er tunkte ein ordentliches Stück Brot in die Soße und klappte die Kiefer weit auseinander, um sich seine Vorspeise mit einem Schlag in den Mund zu schieben.
»Boïndil, nein!«
Der warnende Ruf seines Bruders brachte ihn dazu, in seinem Tun inne zu halten. »Was denn?«, fauchte er unfreundlich. Sein Magen knurrte und rebellierte gegen die Vernachlässigung. »Du störst mich beim Essen.«
Boëndal stand neben der Tür, in der Linken hielt er den Krähenschnabel. Es sah aus, als bereitete er sich auf einen Angriff vor. »Du wirst gleich nichts mehr essen wollen. Sieh in die Ecke.«
Boïndil schaute in die angegebene Richtung. Auf dem Schlachtblock, den der Koch zum Ausbeinen und Zerkleinern benutzte, lagen Knochen, die zu keinem ihm bekannten Tier passen wollten, und die vier abgezogenen Schädel, die daneben lagen, konnten ihrer Form nach nur Langen gehört haben.
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was er sich um ein Haar als Essen gegönnt hätte. Angewidert schleuderte er das Brot weg und sprang auf den Boden zurück; dabei zog er seine Beile.
»Wenn ich den Magus in die Finger bekomme, wird ihm sein Hokuspokus nicht mehr helfen«, versprach er angeekelt.
»Ich habe noch nie gehört, dass Menschen oder Hexer so etwas tun«, gab Boëndal zu bedenken. »Es gibt neue Bewohner, wenn du mich fragst. Das offene Tor stammt von einem Überfall.« Er spähte aufmerksam zur Tür. »Wir müssen sofort zu unserem Gelehrten.«
Rücken an Rücken liefen sie durch die unheimlichen leeren Gänge, um zu ihrem Ausgangsort zurückzukehren.
Tungdil saß auf dem Schemel, der vor Lot-Ionans Ohrensessel stand, und wartete ungeduldig auf die Rückkehr seines Ziehvaters. Dabei wischte er sich den gröbsten Staub von den Kleidern. Er war gespannt, was der Magus zu seinen Berichten sagen würde. Mit dem Wichtigsten würde er zuerst anfangen und ihm sofort die Bücher Goréns überreichen. Zwar nahm er nicht an, dass der Zauberer ihn in die Geheimnisse um die mysteriösen Bücher einweihen würde, hoffte es im Stillen aber.
Leise Schritte ertönten auf dem Gang. Es waren nicht die Geräusche, die Boïndil und Boëndal verursachten, sondern eine leichte, ungepanzerte Person.
Tungdil erhob sich und huschte hinter die Tür, um sich zu verstecken und dem Famulus einen Schrecken einzujagen; diesen Spaß wollte er sich wenigstens erlauben. Seinen Rucksack und den Beutel mit den Artefakten ließ er stehen, spähte hinter der Tür hervor und wartete voller Vorfreude.
Ein junger Mann mit kurzen schwarzen Haaren betrat das Zimmer. Er trug eine malachitfarbene Robe, die ihn als Famulus von Nudin dem Wissbegierigen auswies, und schnüffelte sich mit einer solchen Selbstverständlichkeit durch die Unterlagen und persönlichen Sachen Lot-Ionans, als kennte er keinen Respekt.
Was, bei Vraccas, macht er da? Der Zwerg blieb vorerst in seinem Versteck und beobachtete, wie der Lange die Aufzeichnungen sortierte. Demnach war er für die entstandene Ordnung verantwortlich. Er nahm am Schreibtisch des Magus Platz und sichtete die Aufzeichnungen und Bücher mit kritischem Blick, ehe er sie auf die verschiedenen Stapel legte und ihre Namen in eine Liste eintrug.
Was suchen denn die Schüler Nudins im Stollen?, staunte Tungdil. Und vor allem: Wer hat ihnen erlaubt, sich so ungebührlich und frech zu benehmen? Wenn Lot-Ionan jemanden zum Aufräumen benötigte, stünden ihm genügend eigene Helfer zur Verfügung, aber diese Schriften, das wusste der Zwerg ganz genau, gehörten zu den Dingen, die sein Ziehvater als sehr persönlich betrachtete. Die eigenen Famuli durften nicht hineinschauen, da sollte es Fremden schon gar nicht erlaubt sein.
Schlurfende Schritte näherten sich vom Gang her, eine zweite Person betrat die Schwelle zur Kammer. Der Famulus blickte auf, ungehalten über die Störung. »Was gibt es?«
Tungdil presste sein Gesicht dicht an die Tür, um durch den schmalen Spalt einen Blick auf den Neuankömmling zu werfen. Er sah nur den breiten Rücken, der von einem einfachen Hemd bedeckt wurde.
»Ich habe meine Arbeiten in der Küche erledigt«, sagte eine tiefe Stimme schleppend. Der Zwerg erkannte sie sofort wieder. Der Mann war Eiden, Handlanger und Knecht für alle möglichen Aufgaben des Magus.
»Schön. Setz dich in irgendeine Ecke und störe mich nicht weiter«, befahl ihm der Famulus unwirsch.
Eiden regte sich nicht, sondern verharrte wie ein menschliches Standbild in der Tür. »Ich habe Hunger«, sprach er monoton.
»Geh in die Küche und sauge ein paar Knochen aus, aber lass die Finger vom Fleisch. Das ist für unsere Aufpasser«, erhielt er die harsche Anweisung. »Geh. Verschwinde.«
»Ich will Fleisch«, beharrte der Mann dumpf.
»Raus!« Der Famulus nahm den Brieföffner und schleuderte ihn nach Eiden. Ob Zufall oder nicht, die Spitze bohrte sich in die Brust des Knechts. Er stöhnte auf, bevor er sich umwandte, um die Kammer zu verlassen.
Der Zwerg sah das vollkommen zerstörte, aschfarbene Gesicht, dem ein Kolbenhieb die rechte Schädelseite eingedrückt hatte. Die Verletzung machte ihn zu einem grotesken Abbild eines Menschen.
Tungdil stockte der Atem, als er an ihm herabblickte. Der einst weiße Stoff seines Hemdes war größtenteils von getrocknetem Blut gefärbt; es musste aus den beiden klaffenden Wunden über dem Herzen und dem Schlüsselbein stammen. Die Wundränder zeigten erste Anzeichen von Zersetzung, und der Leib unter dem zerrissenen Stoff schimmerte fahl und bleich.