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Tungdil dachte sogleich an die Erlebnisse im Wald der Elbin und die lebenden Toten. Aber das kann nicht sein! Die Barrieren gegen das Tote Land halten doch noch. Lot-Ionan und die anderen Magi speisten die magischen Sperren mit neuer Kraft, sodass ein Vordringen unmöglich war; die Grenze zum unheimlichen Schrecken aus dem Norden lag zudem vierhundertfünfzig Meilen vom Stollen entfernt. Was ist hier nur geschehen?

Ein Windstoß jagte durch das Zimmer. Neben dem Famulus erschien ein bläuliches Flirren, aus dem sich die Umrisse eines Menschen formten. Es war Nudin der Wissbegierige.

Sein Famulus stand auf und verneigte sich vor dem magisch erschaffenen Abbild. »Ich suche, ehrenwerter Magus«, begrüßte er ihn. »Aber ich konnte die Sachen noch nicht finden, nach denen Ihr verlangt habt.« Er hob seinen Schopf, um in das feiste Antlitz seines Herrn zu blicken. »Die Stollen sind weitläufig. Der alte Mann hatte viele Laboratorien und Bibliotheken«, entschuldigte er sich vorsichtshalber. »Es ist für einen einzelnen Menschen eine schwierige Aufgabe, ehrenwerter Magus.«

»Das ist der Grund, weshalb ich dir bald Gesellschaft leiste«, krächzte er.

Der Zwerg verhielt sich mucksmäuschenstill, um sich nicht zu verraten. Vraccas schien ihn dazu auserkoren zu haben, Gesprächen als ungewollter Zuhörer beizuwohnen. Er hatte Nudin in den ganzen Jahren nur einmal gesehen, meinte aber sich zu erinnern, dass der Magus besser, schlanker und vor allem freundlicher aussah. Dieser Nudin wirkte wie eine schlechte Imitation, die von einem Neider angefertigt worden war, um den Zauberer zu verspotten.

»Lot-Ionan sagte in Porista zu mir, er habe meine Artefakte in einem Schrank vergessen«, fuhr der Magus fort und drehte sich langsam im Kreis, um die Kammer genauestens zu inspizieren. Die Stimme klang hoch und dunkel zugleich. »Hast du dich schon genauer umgesehen?«

»Nein, Herr«, entschuldigte sich der Schüler. »Ich dachte, Ihr wolltet die Bücher zuerst haben, deswegen suchte ich danach.«

Nudin ging auf das große Möbelstück zu, aus dem Tungdil damals den Sack mit den Artefakten genommen hatte. »Es ist nicht sicher, dass die Werke tatsächlich bei meinem alten Freund ankamen.

Die Albae berichteten, dass eine Kriegertruppe in Grünhain auftauchte und die Bücher Goréns raubte, nachdem die Orks die Siedlung erobert hatten. Sie meinten, es seien Zwerge gewesen.«

»Wie konnte das passieren?«, entschlüpfte es dem jungen Mann. »Hattet Ihr ihnen nicht befohlen …«

»Die Albae sind gute Verbündete.« Das Abbild des Magus hatte den Schrank erreicht. Er lehnte den Stab gegen die Wand, die geschwollenen Finger legten sich um die Griffe und drückten sie nach unten. Mit ein wenig Kraft gelang es ihm, das Möbelstück zu öffnen. »Aber sie handeln in ihrer Kunstfreude manchmal nicht nach menschlichen Maßstäben. Das wurde ihrer Botin zum Verhängnis.« Er beugte sich nach vorn und nahm einen Ledersack heraus, der Tungdils bis in die kleinste Einzelheit glich. »Es scheint, als verzeichneten wir endlich einen Erfolg«, sagte er zu seinem Famulus.

Das Band wurde geöffnet, der Inhalt, fünf Schriftrollen, purzelte auf den Boden. Nudin schnaubte, offenbar handelte es sich nicht um das Gesuchte.

Tungdil lugte hinter der Tür hervor. Sein Gepäck stand hinter dem Ohrensessel verborgen, und etwas sagte ihm, dass sich Nudin sehr darüber freuen würde, wenn er es entdeckte.

Plötzlich, als er die Behältnisse nebeneinander liegen sah, fiel es ihm auf: Sein Lederbeutel trug ein blaues Band als Verschluss, aber Lot-Ionan hatte ihm damals befohlen, den Sack mit dem grünen Riemen zu nehmen. Ich habe die Farben der Bänder schlicht verwechselt! Ich war mit den falschen Artefakten unterwegs.

Selbst wenn er Gorén lebend im Grünhain angetroffen hätte, wäre er die vielen Meilen umsonst gelaufen. Dieser Umstand schien sich nun ins Gute zu kehren.

Dem Zwerg gelang es nicht, aus den Worten schlau zu werden. Der Grund, warum sich Nudin und sein Famulus benahmen, als wären sie die neuen Herren des Stollens, erschloss sich ihm noch nicht, aber dass Eiden trotz seiner schweren Verletzungen lebte und sich gänzlich anders benahm als sonst und Nudin die Albae als Verbündete bezeichnete, weckte einen fürchterlichen Verdacht in ihm. Der Wissbegierige schien aus unerfindlichen Gründen die Seiten gewechselt zu haben.

Er musste herausfinden, wie es seinem Ziehvater und den anderen Schülern ergangen war, ohne dabei Nudin in die Hände zu fallen.

»Da war noch etwas«, grübelte der Famulus. Er suchte kurz und zog zwei Briefe aus dem Stapel hervor. Es waren die Nachrichten, die Tungdil unterwegs an seinen Mentor gesandt hatte. »Lot-Ionan erhielt Briefe von einem Tungdil, der Gorén in seinem Auftrag im Grünhain suchte.«

Er reichte die Schriftstücke an seinen Herrn weiter, der die Zeilen mit rot geäderten Augen überflog. »Ich entsinne mich«, meinte er. »Natürlich! Der alte Mann hatte einen Zwerg mit diesem Namen in seiner Obhut. Womöglich besitzt er die Bücher und die Artefakte.« Nudin warf den Brief auf den Tisch. »Ich werde die Albae auf seine Fersen heften, sie finden seine Spur und bringen ihn mir, tot oder lebendig. Ein Zwerg ist im Geborgenen Land nicht alltäglich.« Er nickte dem jungen Zauberlehrling zu. »Sehr gut, Famulus, auch wenn dir der Einfall ein wenig spät kam. Du wirst deinen Lohn erhalten, wenn ich eintreffe. Suche weiter, vielleicht findest du noch mehr Nützliches.« Das Abbild flackerte, wurde durchsichtig und verschwand.

Tungdil hatte schon so viel erlebt, dass er dachte, man könne ihn nur schwer aus der Bahn werfen, aber seinem eigenen Todesurteil zu lauschen und dabei nicht einen einzigen Ton von sich geben zu dürfen, stellte eine große Herausforderung dar.

Der Famulus setzte sich, und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine große Zufriedenheit. Er hatte seinen Meister beeindruckt und sich damit ein wenig des begehrten Wohlwollens gesichert. Von neuem vertiefte er sich in die Papiere.

Als er den Federkiel ins Tintenfass tunkte, um etwas auf seiner Liste zu vermerken, richteten sich seine Augen zufällig auf den Ohrensessel. Dabei bemerkte er den hervorstehenden Riemen des Rucksacks.

»Was, beim …?« Langsam erhob er sich und durchquerte die Kammer, um nach dem Gegenstand zu sehen, der sich vorhin noch nicht dort befunden hatte. Er bückte sich und hob den Ledersack mit den Artefakten auf.

Tungdil nahm seine Axt in die Hand. Er musste den Zauberer so überraschend wie ein Steinschlag treffen, damit ihm keine Zeit blieb, einen Spruch gegen ihn zu werfen und ihm zu schaden. Seine Muskeln spannten sich.

Er wollte gerade losstürmen, da erschallten lautes Gebrüll und Lärm vom Gang, das beide zusammenzucken ließ.

Die Zwillinge gaben sich dieses Mal Mühe, leise zu sein. Was auch immer in den Gängen hauste, sie wollten es nicht vorher warnen, wenn sie darüber herfielen und es in Scheiben schlugen. Wer Lange fraß, machte sicherlich auch vor Zwergen nicht Halt, doch ein Krähenschnabel und ein Beil im Schlund sorgten dafür, dass demjenigen der Appetit verging.

Irgendjemand kam ihnen mit schweren, langsamen Schritten entgegen.

Auf Boïndils Zeichen hin blieben sie stehen und warteten hinter einer Biegung auf das, was stöhnend durch den Gang schlurfte. Plötzlich roch es nach altem, verdorbenem Fleisch, und ein Mensch wankte um die Ecke.

Ein normales Lebewesen hätte sich mit diesen Verletzungen nicht länger auf den Beinen halten können, doch der Mann ging unbeirrt vorwärts. Als er die Zwerge sah, brüllte er voller Freude auf. Seine Bewegungen wurden plötzlich schnell, die Gier nach frischem Fleisch spornte ihn an. Das nutzte ihm jedoch nichts gegen die Erfahrung der beiden Krieger.

Boëndal tauchte seitlich unter dem Schlag des Untoten weg und hackte ihm ins Knie, damit er aus dem Gleichgewicht geriet und stürzte.