»Zwanzig, ja?«, murmelte Tungdil, und sein Mut sank.
»Ich gebe zu, dass es eine Hand voll mehr sind, als ich vorgesehen habe«, gab Boïndil zurück. Seine Stimme klang jedoch nicht so, als machte er sich trotz der Übermacht ernsthaft Sorgen. »Dann ist es eben eine der großen Herausforderungen, von denen ich sprach.«
»Laufen wir links oder rechts an ihnen vorbei?«, fragte Tungdil nach der Vorgehensweise.
»Mitten durch«, grollte Boïndil. »So behindern sie sich gegenseitig, und wir haben die besten Aussichten, einigermaßen unbeschadet zu bleiben. Ich nehme mir ihren Anführer vor. Danach können wir sie über die Flanken angreifen und sie fertigmachen.«
»Tungdil ist noch nicht bereit dazu«, gab Boëndal zu bedenken. »Es geht nicht darum, Orks zu töten, sondern ihn sicher ins Gebirge zu bringen, Bruder.«
Tungdil war über den Beistand sehr glücklich. Er hätte es nicht gewagt, Einspruch zu erheben, weil er die Zwillinge nicht enttäuschen wollte, aber Boëndal besaß Umsicht und gute Augen, die seine Erschöpfung sehr wohl registrierten.
»Na gut, dann brechen wir eben nur durch die Mitte«, meinte Boïndil halb beleidigt, »und lassen ihre Flanken in Ruhe.«
Kaum hatten sie es beschlossen, setzten sie ihren Plan in die Tat um, ehe die Orks auf die Idee kamen, mit Pfeilen nach ihnen zu schießen. Ihre bewährte Kreiseltaktik ging anfangs auf. Sie hätten es wohl auch geschafft, wenn die Feinde keinen unerwarteten Beistand erhalten hätten.
Die gegnerischen Reihen lichteten sich plötzlich. Die Orks wichen vor ihnen zurück und gaben scheinbar den Weg frei.
»Halt! Kommt zurück, ihr Ausgeburten von verkrüppelten Elben!« Ingrimmsch schrie seine Enttäuschung über die Flucht der Ungeheuer laut heraus. »Ihr werdet meinen Beilen nicht entgehen!«
Statt der Orks stellte sich ihnen nun ein einzelner großer Mann entgegen. Tungdil erkannte ihn sofort wieder, sein Abbild hatte er vor kurzem noch mit dem Famulus sprechen sehen. Die fette, aufgedunsene Figur in der dunkelgrünen Robe gehörte dem abtrünnigen Magus, der seinen Ziehvater umgebracht hatte.
In Wirklichkeit sah der Mensch noch widerlicher aus. Bluttränen liefen ihm über die Wangen, das Fett und die Haut hingen weich vom Gesicht und verzerrten die Züge. Er stank, als hätte er sich in einer Grube mit verwesenden Abfällen gewälzt.
»Ihr seid weit gekommen«, sprach er mit säuselnder Stimme. »Nun ist es genug.« Er richtete seine Augen auf Tungdil, die verquollene Hand reckte sich ihm entgegen. »Gib mir den Lederbeutel mit den Artefakten und die Bücher, die du in Grünhain stahlst, danach bist du frei.«
Tungdil packte trotzig seine Axt. »Nein. Es sind die Sachen meines Herrn, und er hat nicht gesagt, dass du sie bekommen sollst.«
Nôd’onn lachte. »Hört, wie er spricht, der tapfere Zwerg.« Er machte einen Schritt nach vorn. »Was du mit dir herumträgst, ist mein Eigentum. Ich werde nicht weiter verhandeln.« Er rammte den Gehstab in die Erde und neigte das Ende mit dem Onyx leicht nach vorne.
Der Rucksack und der Beutel mit den magischen Gegenständen lebten plötzlich, sie zerrten an Tungdil, um sich von ihm zu befreien. Er klammerte sich an die Riemen, um sie aufzuhalten, doch die Kräfte, welche der Magus einsetzte, waren zu stark. Die Lederschlaufen rissen ab und glitten durch seine Finger. Im letzten Augenblick stellte er den Fuß auf einen Sackzipfel.
Kurz entschlossen hob er die Axt. »Ich werde die Artefakte vernichten«, drohte er.
»Nur zu. Du würdest mir Arbeit abnehmen«, forderte ihn Nôd’onn auf. Er hob die Rechte, spreizte die Finger und ballte sie abrupt zu einer Faust.
Die Gepäckstücke wurden mit enormer Kraft in die Luft gerissen, dass der Zwerg sie nicht mehr zu halten vermochte. Sie fielen einem riesigen Ork auf den Arm, der sie grunzend an sich drückte.
Der Magus hustete unvermittelt; ein Blutrinnsal sickerte aus der Nase, das er sich mit einer hastigen Bewegung wegwischte. »Kehrt in euer Reich zurück, Zwerge, und richtet eurem König aus, dass ich sein Land benötige. Er kann es mir überlassen, ohne dass ein Tropfen Blut vergossen wird, oder aber meine Truppen und Verbündeten erscheinen und nehmen es sich mit Gewalt.« Er deutete auf Tungdil. »Den hier könnt ihr mitnehmen. Ich habe keine Verwendung für ihn.«
Die beiden Brüder schwiegen; sie hielten ihre Waffen mit eiserner Entschlossenheit und warteten eine günstige Gelegenheit ab, um den Magus anzugreifen. Sobald er durch etwas abgelenkt würde, wollten sie ihn in Grund und Boden schlagen, doch noch fehlte es an dem passenden Ereignis, das seine Aufmerksamkeit und die der Orks auf sich zog.
Ein wenig abseits entstand unvermittelt Unruhe unter den Bestien. Es wurde geschoben und geschubst, erste böse Worte fielen. Ein besonders eindrucksvolles, muskulöses Exemplar zog sein Schwert und rammte es dem Nächststehenden aufgrunzend bis zum Heft in den Bauch. Innerhalb von Lidschlägen entspann sich ein blutiges Scharmützel in der Rotte.
Ingrimmsch senkte unmerklich den Kopf – ein untrügliches Vorzeichen für seinen Angriff gegen den Magus. Die braunen Augen richteten sich fest auf die Knie Nôd’onns.
»Du schlägst seinen Stab entzwei«, befahl er Tungdil auf Zwergisch. »Es wäre gelacht, wenn wir ihn nicht bezwängen.« Worte wie Selbstüberschätzung oder Zweifel schienen Boïndil fremd zu sein.
»Nein. Mit gewöhnlichen Waffen gelingt es uns nicht.« Tungdil schielte zu dem gerüsteten Scheusal, das den Rucksack und den Beutel mit den Artefakten hielt. »Wir brauchen diese Dinge. Wenn er sie vernichten will, so fürchtet er sie nicht ohne Grund«, wisperte er.
»Dann kennst du deine Aufgabe, Tungdil. Achtet auf mein Signal«, brummte Ingrimmsch, doch bevor die drei Zwerge losschlugen, kam ihnen jemand zuvor.
Vom Hügel aus stieß ein gleißender Strahl herab und traf den verräterischen Magus in die Seite. Der Mann keuchte auf, die Finger gaben den Stab frei, und er taumelte nach rechts.
Die nächste Lanze aus reiner Magie schoss heran und verdampfte zehn Orks zu stinkenden Überresten aus Metall und Fleisch. Die übrigen Bestien grölten durcheinander und schauten sich nach dem neuen Angreifer um. Rasch entdeckten sie die schmale Gestalt auf der Anhöhe und stürmten die sanfte Erhebung hinauf.
Nôd’onn fuhr herum und öffnete die Rechte; sein Stab schnellte vom Boden auf und flog ihm in die Hand.
Auf diesen Augenblick hatten die Zwerge gewartet. Boïndil rannte brüllend auf ihn zu und hackte ihm in die Beine, Boëndal schwang seinen Kriegshammer über den Kopf, um den notwendigen Schwung zu erhalten, und versenkte den Krähenschnabel tief im breiten Rücken des Magus. Er riss am Stiel seiner Waffe, und Nôd’onn brach durch den doppelten Angriff zusammen.
Die Orks um den Zauberer herum hatten nur Augen für den neuen Feind, der sich zu wehren wusste. Schwarze Wolken entstanden wie aus dem Nichts über den Köpfen der Ungeheuer, donnernd formierte sich ein Gewitter.
Als die ersten Angreifer beinahe die Spitze des Hügels erreicht hatten, entlud sich das Unwetter mit aller Macht. Blitze zuckten knisternd herab und trafen die Bestien, die unter den einschlagenden Energien wie Würste in kochendem Wasser platzten. Die grellen Bahnen blendeten die nachfolgenden Orks, und der Sturm auf die Anhöhe geriet ins Stocken.
Ein heftiger Wind kam auf, er umtoste die Ungeheuer und fegte sie wie Spielzeugpuppen davon. Sie prallten gegen ihre Artgenossen, wirbelten gegen Bäume oder wurden von den Böen zu Tode geschleift.
Ingrimmsch sprang seinem Bruder bei, der Nôd’onn an seinem Krähenschnabel aufgespießt hatte und zu Boden drückte. Viermal drosch er zu, bis die Wirbel brachen und der Kopf des Magus abgetrennt über den Weg rollte. Eine stinkende, schwarzrote Flüssigkeit ergoss sich aus der Wunde in den Dreck.
»Die Artefakte!«, erinnerte Boëndal seinen Bruder und zog ihn weiter, als dieser lachend Anstalten machte, die Hose zu öffnen und dem Leichnam als letzte Verhöhnung Zwergenwasser zu geben.
Tungdil hatte sich in der Zwischenzeit mit letzter Kraft gegen den Ork geworfen, der sein Gepäck hielt. Er dachte nicht über seine Angriffe nach, sondern führte die Axt aus seinem Gefühl heraus und verband es mit dem erlernten Wissen. Das Ungeheuer fiel rascher, als er angenommen hatte, sein Sieg kam beinahe überraschend. Ich kann auch ohne die beiden kämpfen!, dachte er und raffte die Säcke an sich.