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Bislipur lief schweigend neben seinem Herrn her. Er ließ ihm Zeit, um über seine Worte nachzudenken.

»Eine neuerliche Abstimmung«, sagte Gandogar in Überlegungen vertieft. »Sie zu verlangen bedeutet, sich über die Gesetze unseres Volkes hinwegzusetzen und die Entscheidung des Großkönigs anzuzweifeln.«

»Dazu gehört viel Mut und noch mehr Überzeugung, das Richtige zu tun. Beides hast du«, sprach Bislipur beschwörend. »Besteige den Thron. Jetzt.«

Sie gelangten in einen der zahlreichen Steinbrüche, wo feinster Marmor in großen Platten geschlagen wurde; rechts davon schlängelte sich ein Fluss vorbei. Von einer Brücke aus, gut hundertachtzig Schritt über den Köpfen der Arbeiter, beobachteten sie das Treiben.

»Was geschieht, wenn Gundrabur plötzlich stirbt? Werden wir so lange ohne Großkönig sein, bis dieser Unbekannte erscheint und das Verfahren ablaufen kann?«, fragte Bislipur, um eine Entscheidung herbeizuführen. »Und wenn das Tote Land angreift und die Clans ohne Führer dastehen? Wer leitet die Verteidigung und den Gegenangriff? Es wird zum Streit kommen, und die Zwerge werden untergehen!«

Gandogar tat so, als hörte er Bislipur nicht, wenngleich dessen Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. Diese Fragen stellte er sich ebenso, ohne eine Antwort darauf zu wissen. Es sind die Gesetze, die Vraccas uns gab. Aber dürfen sie uns schaden, nur weil wir auf ihrer Einhaltung pochen? Dürfen wir deswegen Gelegenheiten verstreichen lassen? Er beobachtete die Arbeiter, um sich abzulenken. Obwohl es sich um Stein, lebloses Material handelte, gingen sie mit Umsicht zu Werke und zeichneten penibel ein, wie groß die nächste Scheibe sein sollte. Mit Pickeln, Hämmern, Meißel und Stemmeisen gingen sie daran, dem steinernen Leib des Berges ein Stück seines Fleisches zu entreißen. Die Blätter der gewaltigen Steinsägen wurden durch Wasserräder angetrieben.

Grauer Staub hing wie Nebelschleier in der Luft, gegen den sich die Zwerge mit Tüchern vor Mund und Nase schützten. In dicken Schichten lag das Gesteinsmehl auf jenen Werkzeugen, die seltener in Gebrauch genommen wurden.

Gandogar empfand immensen Stolz, bald Großkönig über die Stämme und Clans zu sein, die ein Volk und dennoch so unterschiedlich waren. Die Abstammung, das Blut und die gemeinsamen Feinde einten sie.

Dürfen uns unsere eigenen Gesetze schaden? Er sah die Gesichter seines Vaters und seines Bruders vor sich, die von Elbenpfeilen getötet worden waren. Ohne Grund. Seine Fäuste ballten sich, die Augenbrauen zogen sich zusammen.

Gandogar hatte genug gesehen und sich entschlossen. »Du hast Recht, Bislipur, wir müssen handeln. Ich werde die Kinder des Schmiedes zu einer neuen Gemeinschaft führen und kein anderer. Etwas Geeigneteres, als einen siegreichen Krieg gegen einen gemeinsamen Feind zu führen, gibt es dafür nicht«, sagte er bedachtig. »Der Triumph über die Elben wird die Stämme von neuem zusammenschweißen und all ihre Vorbehalte, Zwiste und Streitigkeiten, die es in der Vergangenheit gab, vergessen lassen.«

»Und dein Name wäre untrennbar mit dem neuen Glanz verbunden«, ergänzte sein Mentor zufrieden. Seine unaufhörlichen Predigten schienen nun endlich gefruchtet zu haben.

»Das Warten muss enden. Ich werde von Gundrabur verlangen, innerhalb der nächsten dreißig Sonnenumläufe eine Abschlusssitzung einzuberufen, in der meine Nachfolgeschaft bestätigt wird.«

»Und wenn er vorher stirbt? Er ist alt und gebrechlich …«

Gandogar zögerte nicht. »Dann werde ich den Thron besteigen, ganz gleich, ob der Hochstapler eingetroffen ist oder nicht«, erklärte er bestimmt. »Lass uns zurückkehren. Ich bin müde und hungrig.«

Bislipurs Verstand feilte an einer neuen Aufgabe, die ihm der König unausgesprochen und unwissentlich erteilt hatte.

In dreißig Umläufen kann viel geschehen, dachte der Zwerg mit dem graubraunen Bart düster. Er hatte schon Schlimmeres als einen Mord begangen, um Gandogars Macht zu stützen, da würde eine Niederträchtigkeit mehr nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Aber dieses Mal verlangte sein Vorhaben eine absolut sichere Planung. »Ich komme, mein König«, rief er.

Bislipur trat an den Rand der Brücke und schaute in das gähnende, unendlich scheinende Loch hinab. Wer in einen solchen Abgrund fällt, verschwindet für alle Zeiten. Swerd bekäme bald wieder etwas zu tun.

Das Geborgene Land, Ionandar im Jahr des 6234sten Sonnenzyklus, Spätsommer

»Komm auf die Füße, Gelehrter. Es geht weiter«, raunte ihm jemand ins Ohr. Barthaare kitzelten seinen Hals, das Träumen von einer besseren Welt hatte ein Ende. Tungdil richtete sich auf und rieb sich die Augen.

Die Zwillinge spähten aus der Mulde hervor, um umherstreifende Orks zwischen den Bäumen ausfindig zu machen, doch die Bestien schienen an einer anderen Stelle nach ihnen zu suchen. Somit war ihr eigener Aufbruch nach Süden ins Reich der Zweiten nicht gefährdet.

Welch ein Abenteuer, dachte Tungdil bedrückt. Es war das Grässlichste, was er sich je hatte vorstellen können. Er brach auf, um einem Menschen ein paar Artefakte zu bringen, und befand sich als Thronanwärter des Zwergenreiches plötzlich mitten im Krieg des wahnsinnigen Nudin gegen das Geborgene Land. Alle, die er einst kannte und mochte, starben, nur er selbst war mit zwei Zwergen auf der Flucht vor dem Verrückten, der nach ihrem Leben und den Dingen trachtete, die sie mit sich führten. Und ich habe keinen Schimmer, was ich damit soll.

Tungdil entfernte kleine Zweigreste und Blätter aus seinen Haaren und dem Bart. Nudin hatte, wenn er sich dessen Worte ins Gedächtnis rief, dem ganzen Land, allen Königen und Elben den Krieg erklärt und schreckte nicht einmal davor zurück, den Zwergen zu drohen.

»Du siehst aus, als machtest du dir Gedanken«, schätzte Ingrimmsch und reichte ihm ein Stück Brot mit Käse. Dann deutete er auf den Wald. »Komm. Du kannst unterwegs essen.«

Tungdil folgte den Anweisungen des Kriegers. »Nudin muss alles sehr lange vorbereitet haben und sich seiner Sache sehr sicher sein, wenn er uns als Boten einsetzen wollte«, überlegte er laut.

Boïndil lachte auf. »Aber nur, bis wir ihm seinen Kopf abgehackt haben.«

»Was ihn nicht sonderlich gestört hat«, ergänzte sein Bruder mürrisch. »Weißt du etwas darüber, Gelehrter? Können das alle Zauberer?«

Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Nein. Magi sind gewöhnliche Sterbliche, die nur länger als die üblichen Menschen leben, aber sie bluten und verletzen sich wie andere auch. Ich habe selbst gesehen, wie Lot-Ionan sich einmal mit dem Messer schnitt. Als er sich mit einem Zauberspruch heilte, fragte ich ihn, ob er damit auch den Tod rückgängig machen kann …«

Wieder sah er die vertrauten Gesichter seines Ziehvaters und Fralas vor sich; die Trauer übermannte ihn und brachte ihn zum Schweigen. Seine Begleiter drängten ihn nicht.

»Sie können nichts gegen den Tod ausrichten«, sagte er niedergeschlagen. Leider.

»Oder es können nur die Falschen«, fügte Boëndal an. »Nôd’onn stand jedenfalls wieder auf. Dabei hatte er meinen Krähenschnabel im Rücken und verlor seinen hässlichen Schädel!«

»Das wird ein besonderes Kunststück sein«, meinte Ingrimmsch verächtlich. »Das Tote Land wird ihm diese Gabe geschenkt haben.«

Tungdil fand keine Erklärung. Hatte er zunächst angenommen, Nudin sei zu einem Untoten geworden, wurde seine Vermutung durch die Auferstehung zunichte gemacht. Schlimmstenfalls war es dem Abtrünnigen gelungen, hinter das Geheimnis des ewigen Lebens zu gelangen, was zur Folge hätte, dass dem Geborgenen Land ewige Finsternis drohte.

»Wir hätten ihn in seine Einzelteile zerlegen und sie verbrennen sollen«, grummelte Boïndil.

»Das hätte euch auch nicht viel genutzt«, sagte eine helle Stimme, die zwischen den Baumstämmen widerhallte. »Nôd’onn ist mit den bekannten Waffen der Sterblichen nicht mehr zu vernichten, weder Schwert noch Axt noch Magie vermögen es. Ich habe es selbst versucht und bin gescheitert.«