Die Zwerge nahmen ihre Äxte und Beile zur Hand, Boïndil sicherte ihren Rücken. »Es können keine Orks sein«, wisperte Boëndal Tungdil zu.
»Wir werden sehen, ob das besser ist«, antwortete sein Bruder. »Kleine oder große Herausforderung?«
Aus dem Schutz der grünen Tannen trat eine Gestalt hervor, die Tungdil schier den Atem raubte. Dass Menschen so groß wurden, hätte er niemals für möglich gehalten. Dieser war mindestens so hoch wie zwei Zwerge und seine Brust so breit wie ein Fass.
Den imposanten Anblick einer Körperrüstung kannte er nur aus seinen Büchern. Der Harnisch mit der hohen Halsberge, die Arm- und Beinschienen waren aus kostbarem Tionium geschmiedet und so geformt, dass sie dem Träger ein muskulöses Äußeres aus Stahl verliehen. Unter den Metallstücken schauten die Ringe eines Kettenhemdes hervor, das dem Mann zusätzlichen Schutz verlieh. Damit sein ehernes Kleid nicht zu sehr klapperte, trug er einen leichten Überwurf zwischen den verschiedenen Metalllagen.
Die riesigen Füße steckten in beschlagenen Stiefeln, und sein Kopf wurde von einem Helm verborgen, dessen aufwändig graviertes Visier in Form eines Dämons gestaltet war. Auf Stirnhöhe verlief ein Ring aus fingerlangen Spitzen, der an eine Krone erinnerte.
Seine Rechte hielt die zweischneidige Axt, als wäre sie so leicht wie ein Stück Holz, die Linke einen Schild. In seinem Waffengehänge baumelten eine kleine Keule und ein Schwert, das an diesem Krieger wie ein Dolch wirkte. Als genügte ihm das Gewicht und das Arsenal des Todes nicht, führte er auf dem Rücken einen Zweihänder mit sich.
Boïndil warf einen raschen Blick über die Schulter, um sich einen Eindruck von dem Neuankömmling zu verschaffen, und schon konnte er die Augen nicht mehr von dem Mann lassen.
»Lass mich nach vorn«, bat er seinen Bruder flehentlich. »Übernimm du unsere Rückendeckung, während ich mich um das Gebirge aus Erz kümmere.« Seine Augen blitzten begierig. »Das nenne ich eine große Herausforderung. Der taugt gewiss mehr als die Schweinchen.«
»Sei still«, wies ihn Boëndal scharf zurecht. »Noch wissen wir nicht, was er will.«
»Er hat eine sehr hohe Stimme für einen Kerl wie ein Baum«, merkte Tungdil staunend an.
Eine Frau mit blonden, zu einem Zopf geflochtenen Haaren und einem herben Gesicht trat neben den Krieger. »Es war auch nicht seine Stimme.« Ihre blauen Augen musterten das Trio. »Es war meine.«
Tungdil überlegte, ob er sie kannte, aber die markanten Züge sagten ihm ebenso wenig wie ihre Art, sich zu kleiden. Ihr athletischer Körper steckte in einem dunkelbraunen Lederkleid, dessen lange Beinschlitze größtmögliche Beweglichkeit gewährleisteten; dazu trug sie hohe schwarze Stiefel und Handschuhe. Sie hielt die rechte Hand am Griff eines Schwertes. Je länger er sie betrachtete, umso mehr erinnerte er sich an eine Erzählung seines Ziehvaters.
»Ihr seid Andôkai, die man die Stürmische nennt?«, fragte er zögerlich.
Die Maga nickte. »Ganz recht. Und du bist Tungdil, der es zusammen mit seinen Freunden schaffte, Nôd’onn zu entgehen.« Sie deutete auf den Hünen an ihrer Seite, der sie um beinahe fünf Köpfe überragte und wie die Statue eines Kriegsgottes unbeweglich auf der Stelle stand. »Das ist mein treuer Begleiter Djerůn.«
»Und was willst du von …«, setzte Boëndal argwöhnisch an, doch Tungdil fiel ihm aufgeregt ins Wort.
»Was ist mit Lot-Ionan? Lebt er noch, ehrenwerte Maga?«
Andôkai betrachtete ihn, Schmerz und Wut verfinsterten ihr Antlitz. »Er ist tot, Tungdil. So tot wie Maira, Turgur und Sabora. Nôd’onn hat ihnen das Leben geraubt, um sich den Weg zur Macht über das Geborgene Land zu ebnen.«
Der Zwerg senkte das Haupt. Die Gewissheit schmerzte, der Gram über den endgültigen Verlust seines Ziehvaters fraß ein Stück aus ihm heraus und hinterließ ein Loch, einen Abgrund.
»Den Meistern folgten die besten Schüler ins Verderben, sodass er nun der unangefochtene Magus ist«, erzählte sie unerbittlich weiter.
»Dann warst du es, der ihn mit Blitzen attackierte! Hast du mehr ausrichten können als wir?«, warf Ingrimmsch ein.
»Er trotzte allem«, berichtete sie. »Ich griff ihn mit meinem gesamten Können an, doch er widerstand. Als wir sahen, dass selbst eure Enthauptung ihr Ziel verfehlte, ahnten wir, dass es zu spät sein könnte. Dann erhielten wir Gewissheit.«
»Lange«, grummelte Boëndal abfällig. »Da reißt man sich den Bart aus, um sie gegen die Horden Tions, die vor den Gebirgen lauern, zu bewahren, und was tun sie? Sorgen von innen heraus für den Untergang. Vraccas hätte euch besser eine Amme geben sollen, die euch an der Hand nimmt und auf die Finger klopft, wenn ihr Unsinn anrichtet.«
»Da magst du Recht haben.« Die Maga schritt auf sie zu. »Ich habe euch gesucht, um herauszufinden, was Nôd’onn von euch wollte«, erklärte sie ihr Erschienen. Sie ging vor Tungdil in die Hocke. »Du musst etwas besitzen, was er unbedingt haben möchte. Wir haben es vom Hügel herab beobachtet. Was ist es?«
»Nein, es ist nichts. Es sind nur Andenken an meinen Herrn«, log er. »Nudin mochte ihn wohl nicht und verlangte nach den Dingen, um sie zu vernichten.«
»Im Gegenteil, sie verstanden sich einst gut. Mich dagegen mochte dein Herr nicht«, lächelte sie ihn an.
Tungdil erinnerte sich. Es ging um ihre Gesinnung und ihren Gott Samusin. Wenn die anderen beiden erfahren, dass sie Orks in ihrem Reich duldete, kann es zu einem ungleichen Kampf kommen. Das lag nicht nur an den magischen Fertigkeiten der Frau, sondern auch an den Kräften ihres Begleiters, dem er unbesehen zutraute, einen Baum zu spalten.
»Ich mag dich auch nicht«, tat Boïndil unmissverständlich seine Meinung kund. »Geh deiner Wege und lass uns in Ruhe. Wir haben andere Sorgen.«
»Andere Sorgen?«, wiederholte Andôkai seine Worte spöttisch und richtete sich auf. »Ihr werdet gar keine Sorgen mehr haben, wenn der Magus erst einmal die Königreiche in seinen Besitz gebracht hat. Die Zwergenländer werden ebenso fallen wie die Gebiete der Menschen und Elben. Er und das Tote Land, mit dem er sich verbündet hat, streben nach Macht. Grenzenloser Macht.« Andôkai reckte ihr Kinn und sah höhnisch auf Boïndil herab. »Flüchtet nur in euer Refugium in den Bergen. Ich sage dir, die Kreaturen Tions stürmen eure Festungen bald von zwei Seiten.«
»Was wirst du unternehmen?«, fragte Tungdil.
»Von hier fortgehen«, antwortete sie ihm ehrlich. »Ich bin nicht so töricht zu denken, ich könnte das Tote Land aufhalten. Kein Heer wird etwas gegen Nôd’onn unternehmen können, auch wenn es die Könige meinen und sich darauf verlassen. Was soll ich dann noch hier? Um nach meinem Tod als Untote zurückzukehren? Davor möge mich Samusin bewahren.« Sie betrachtete die Zwerge. »Und ihr? Reist ihr ins Reich der Zweiten? Wenn es so ist, schließe ich mich euch an, gehe durch die Hohe Pforte, und ihr seht mich niemals wieder. Bis dahin sind wir Verbündete.«
Die Zwerge berieten sich kurz und willigten gegen die Stimme Ingrimmschs in ihren Vorschlag ein. Tungdil und Boëndal hatten aus der Vergangenheit gelernt und wollten sich auf diese Weise magischen Beistand sichern, damit sie im Verlauf ihrer Reise auf alles vorbereitet waren.
Boïndil nörgelte zwar, gab sich aber geschlagen, weil er kein besonders guter Streiter mit Worten war; Tungdils Gelehrtenzunge redete ihn an die Wand. »Dafür«, schwor er ihnen, »werde ich euch die Ohren voll jammern, wenn mit denen was schief läuft.«
»Du darfst dich uns anschließen«, verkündete Tungdil.
»Aber wir sagen, wo es lang geht, Blondzopf«, setzte Boïndil nach, der dem Gerüsteten einen abschätzenden Blick zuwarf. Man sah ihm an, dass er sich zu gern mit dem turmhohen Gegner gemessen hätte. »Kannst du reden? Holla! Hörst du uns überhaupt, so hoch da oben und mit dem Eimer auf dem Kopf?«
»Djerůn ist stumm«, schaltete sich die Maga in scharfem Ton ein. »Lass ihn in Ruhe und sei gefälligst höflich, sonst könnte ich Anmerkungen über deine Größe und deinen Geruch machen.«