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Die drei Zwerge betrachteten den Mann, von dem sie immer noch nicht wussten, ob er schlief oder nicht. Die grinsende Dämonenfratze auf seinem Visier glomm im Schein des Feuers auf und schien sie zu verhöhnen.

Boëndal zuckte mit den Achseln. »Er wird irgendwann essen müssen«, murmelte er. »Dann sehen wir sein Gesicht.«

IX

Das Geborgene Land, Königreich Gauragar im Jahr des 6234sten Sonnenzyklus, Spätsommer

Eine derart außergewöhnliche Reisegruppe, wie sie seit mehreren Umläufen durch Ionandar und nun durch Gauragar wanderte, hatte das Geborgene Land seit tausenden von Sonnenzyklen nicht gesehen.

Lange bevor die Köpfe der Zwerge über die Kuppe eines Hügels ragten, erhob sich der eindrucksvolle gepanzerte Oberkörper des Kriegers über die Anhöhe und sorgte bei den Bauern, die auf den Feldern ihrer Arbeit nachgingen, für offene Münder und erschrockene Rufe.

Die Zwillinge liefen gewöhnlich vorneweg, Tungdil in der Mitte, und die Maga und ihr Krieger folgten mit ein wenig Abstand. Dabei ging Djerůn in ganz kleinen Schritten, um die Frau und die Zwerge nicht ständig zu überholen. Andôkai hatte einem Pächter für verschwenderisch viele Münzen ein Pferd abgekauft, auf das sie ihr Gepäck und einen Teil der Waffen des Mannes geladen hatten.

Tungdil dachte die ganze Zeit darüber nach, ob er der Zauberin von den Büchern erzählen sollte, die er mit sich führte. Die in den Schriften verborgenen Geheimnisse schienen Nôd’onn ebenso zu beunruhigen wie die Artefakte, und daraus schöpfte der Zwerg die Hoffnung, etwas gegen ihn ausrichten zu können. Wenn es mir nicht gelingen sollte, muss Andôkai ihre Fluchtpläne aufgeben. Sie ist die letzte Maga. Er hoffte inständig, sie überzeugen zu können. Also fiel er ein wenig zurück, bis er auf der Höhe der Frau lief. »Etwas beschäftigt mich«, hob er an. »Wieso könnt Ihr die Magie noch nutzen? Nudin … Nôd’onn hat sie doch verändert.«

»Warum möchtest du es wissen?«, erwiderte sie.

»Es ist wichtig.«

»Für dich oder für mich?«

»Für das Geborgene Land.«

»Oh, wenn es so ist, antworte ich natürlich.« Andôkai lächelte schwach. »Weil ich nicht ganz so freundlich bin, wie die anderen Magi es gewesen sind. Mein Gott Samusin ist für den Ausgleich, er liebt die Dunkelheit ebenso wie das Licht, und daher kann ich beides nutzen. Die zum Schlechten veränderte Magie stört mich nicht weiter, auch wenn es mir etwas schwerer fällt, sie zu speichern und zu nutzen. Der Verräter hat nicht damit gerechnet, dass ich lebe. Aber was soll’s, ich zähle nicht mehr.« Sie legte die Hand über die Augen und spähte nach vorne. »Es sollte allmählich ein Wald kommen, der uns ein wenig Schatten spendet. Die Sonne ist kaum zu ertragen.«

Jetzt oder nie. Tungdil sammelte sich. »Ehrenwerte Maga … Angenommen, es gäbe etwas, mit dem man den Verräter aufhalten könnte, würdet Ihr es versuchen?«, fragte er sie ohne Umschweife.

Andôkai ging unbeirrt weiter, sie ließ ihn zappeln. »Geht es um das, was du mit dir herumträgst, kleiner Mann?«

»Wir haben es in Grünhain von Gorén mitgenommen«, berichtete er ihr von ihrem Abenteuer. »Albae und Orks waren auf der Suche danach, aber wir sind ihnen zuvorgekommen.«

»Darf ich es sehen?«

Tungdil zögerte. Doch er war schon so weit gegangen, da machte es auch nichts mehr, wenn die Frau die Bücher zu Gesicht bekam. Sorgsam packte er sie aus, schlug das Tuch auseinander und hielt sie der Maga hin.

Andôkai klappte die Buchdeckel nacheinander auf und blätterte vorsichtig weiter, ohne dass ihr Antlitz eine Regung widergespiegelt hätte.

Der Zwerg fühlte eine große Enttäuschung in sich aufsteigen, denn er hatte mit ihrem Erstaunen gerechnet. Dass die Zauberkundige so gelassen blieb, wertete er als schlechtes Zeichen.

»Ist das alles?«, erkundigte sie sich nach einer Weile und gab ihm die Folianten zurück.

»Was steht drin?«, antwortete er mit einer trotzigen Gegenfrage.

»Es sind Sammlungen über legendäre Geschöpfe, märchenhafte Geschichten über Waffen und ein rätselhafter Reisebericht eines Erkundungstrupps, der einst über den Steinernen Torweg ins Jenseitige Land zog. Ein einziger Mann, so steht es im Vorwort, kehrte tödlich verletzt zurück und brachte Schriften mit, die in diesem Buch zusammengefaßt wurden. Ich wüsste nicht, warum Nôd’onn daran gelegen sein sollte, es sei denn, er hat sich seine alte Wissbegier bewahrt.«

»Mehr nicht?«, wunderte sich Tungdil, während er die Bücher wieder einpackte.

»Mehr nicht.«

»Aber … er hat deswegen eine Siedlung angreifen und vernichten lassen. Er hat uns seine Orks auf den Hals gehetzt, um sie in die Finger zu bekommen.« Er schaute sie aufrührerisch an. »Ihr irrt Euch, ehrenwerte Maga. Es muss ein Geheimnis darin verborgen liegen, das Ihr nicht zu deuten vermögt.«

»Ich nicht zu …?« Die Herrscherin über Brandôkai lachte aus vollem Hals. »Djerůn, hör dir das an. Ich laufe auf einer staubigen Landstraße neben einem Zwerg, der vorgibt, gelehrter zu sein als ich.«

Der Krieger trottete ungerührt weiter.

»Ich bin nicht gelehrter, aber sicherlich weniger eingebildet und hochnäsig als Ihr«, merkte Tungdil an. »Seid Ihr sicher, dass kein Elbenblut in Euch fließt?«

»Oha, der Zwerg zeigt seine Zähne«, sagte sie amüsiert. »Man merkt, dass Lot-Ionan dich aufgezogen hat.« Sie nickte zu den Zwillingen hinüber. »Die hätten schon längst eine Axt gezückt und versucht, die Unterredung auf ihre Art zu beenden.« Andôkai wurde plötzlich ernst. »Ich werde die Bücher heute Abend noch einmal anschauen, Tungdil, und zwar in aller Ruhe. Vielleicht verbirgt sich wirklich mehr darin als ich dachte.«

»Danke, ehrenwerte Maga.« Der Zwerg nickte ihr zu und trabte voran, um zu den Geschwistern aufzuschließen. »Vielleicht wissen wir schon bald, warum der Magus unsere Bücher wollte«, verkündete er ihnen.

»Hast du der Langen etwa von ihnen erzählt?«, fragte Boïndil fassungslos.

»Ich habe sie ihr gezeigt.«

Der Zwerg schüttelte tadelnd den Kopf. »Du bist wahrlich ein gutgläubiger Gelehrter. Benimm dich weniger menschlich und sei endlich einer von uns.«

»Ach? Ich soll ihr den Schädel spalten, wenn sie anderer Meinung ist?«, gab Tungdil gereizt zurück.

»Das wäre ein Anfang«, erwiderte Boïndil nicht weniger bärbeißig.

Boëndal schob sich schlichtend zwischen die Streithähne. »Genug! Spart euren Zorn für die Orks, denen wir sicherlich noch begegnen werden«, verlangte er nachdrücklich. »Es war gut, dass er sie gefragt hat. Ich werde ungern wegen etwas gejagt, worüber ich nichts weiß.«

Sein Bruder grummelte etwas Unverständliches und beschleunigte seine Schritte.

»Ich habe niemals behauptet, dass es leicht sein würde, mit uns zu reisen, Gelehrter«, sagte Boëndal grinsend.

Tungdil musste lachen.

Gegen Abend rasteten sie. Die Nacht war bereits merklich kühler geworden; es roch nach Erde und Gras, und die Grillen zirpten ihnen ein Konzert.

Während die Zwerge ihre letzten Vorräte verspeisten – sie hatten nämlich am Horizont die ersten mächtigen Gipfelspitzen des Gebirges ausgemacht und hofften, bald frische zwergische Köstlichkeiten genießen zu dürfen –, befasste Andôkai sich wie versprochen mit den Büchern und studierte deren Inhalt.

Tungdil ließ sie in Ruhe, um sie nicht zu stören, was ihn aber nicht daran hinderte, sich zu Djerůn zu begeben und ihm sein Essen zu bringen. Wie an den Abenden zuvor stellte er ihm einen Teller mit einem Laib Brot, einem halben Käse und ein großes Stück Fleisch hin.

Dieses Mal wollte er darauf achten, wann es der Krieger zu sich nahm. Bislang wusste nämlich keiner, wie er ohne seinen stählernen Kopfschutz aussah.

»Djerůn übernimmt die erste Wache«, sagte Andôkai, ohne von dem Buch aufzublicken. »Ihr könnt euch hinlegen.«

»Von mir aus«, brummte Boïndil und rülpste laut. Er schüttelte sich die dicksten Krümel aus dem Bart, wickelte seinen Zopf zu einem gemütlichen Kissen und legte sich neben das Feuer. »Aber wenn Schweinchen auftauchen, Langer, wirst du mich artig wecken, damit ich ihnen meine Beile zu kosten gebe«, riet er dem Kämpfer, der wie immer starr auf dem Boden saß.