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Die Brüder nutzten die Gelegenheit, als Erste zu schlafen; bald drang ihr lautes Schnarchen durch den Wald und brachte die Zweige zum Zittern.

Entnervt klappte die Maga das Buch zu. »Jetzt weiß ich, warum sie bislang den Anfang mit der Nachtwache gemacht haben«, fauchte sie. »Dieser Lärm ist nur zu ertragen, wenn man selbst tief schläft.«

Tungdil lachte leise. »Wie muss es erst in einem Zwergenreich klingen?«

»Ich werde nicht lange genug dort sein, um dir diese Frage beantworten zu können«, erwiderte sie mürrisch und streckte sich. Die Muskeln ihrer Arme schwollen an, was ihr einen anerkennenden Blick Tungdils einbrachte. Selbst die Mägde im Stollen, die viel körperliche Arbeit verrichteten, konnten sich mit ihrer Kraft nicht messen.

»Habt Ihr etwas …« Tungdil biss ich auf die Lippe. Dabei hatte er sich fest vorgenommen, sie nicht auf die Bücher anzusprechen.

Sie zog die Beine an, stützte die Ellbogen darauf und legte ihr Kinn auf die Handflächen. Ihre blauen Augen suchten seinen Blick. »Du denkst, dass ich mich anders entscheiden würde, wenn ich ein Mittel gegen Nôd’onn in dem Geschrieben fände?«

»Euer Gott ist der Gott des Ausgleichs. Ihr müsstet es als Verpflichtung sehen, ein Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten im Geborgenen Land herzustellen«, appellierte er an ihre Überzeugung, nachdem Ehre allein ihr anscheinend nicht viel bedeutete. Wie sonst erklärte sich, dass sie ihr eigenes Reich im Stich ließ?

Andôkai legte eine Hand auf den Buchrücken des schwarz eingebundenen Folianten. »Befände sich darin die Formel für einen Zauber, mit dem man Nôd’onn in die Knie zwingen könnte, so wäre ich bereit, mich ihm in den Weg zu stellen«, sagte sie nachdenklich. »Ich habe nichts dergleichen gefunden. Blumige Beschreibungen von Fabelwesen, Märchen … mehr nicht.«

»Das bedeutet, Ihr werdet bei Eurem Vorhaben bleiben, dem Land den Rücken zu kehren?«

»Meine Jahre zählen nichts gegen die Macht, die Nôd’onn zur Verfügung steht. Ich hatte Mühe, ihm heil zu entfliehen.« Sie schlug aufs Geratewohl eine Seite auf. »Wenn es ein Rätsel gibt, mit dem sich die Silben erschließen, so entdecke ich den Schlüssel nicht.«

Er entschied sich, der Maga alles zu offenbaren und reichte ihr den Brief, der in der Sprache der Gelehrten verfasst war. »Der lag bei den Büchern«, sagte er. »Vielleicht ergibt sich daraus mehr.«

»Ist das endlich alles, oder verbirgst du noch mehr Geheimnisse vor mir?«

»Nein, Ihr wisst nun alles.«

Andôkai nahm das Papier, faltete es und legte es zwischen die Seiten eines Folianten. Dann rieb sie sich die Augen. »Das Licht eignet sich nicht sonderlich zum Studieren, ich werde Morgen damit fortfahren.« Sie barg die Bücher wieder in dem Wasser abweisenden Tuch, schob sich den Stapel als Stütze unter den Kopf und legte sich zur Ruhe.

»Morgen?« Tungdil, der gehofft hatte, sie würde die Zeilen sofort lesen, seufzte laut. Sie war eine schwierige Frau. Bevor er neben das Feuer rutschte, warf er einen Blick zu Djerůn.

Der Teller vor dem Krieger war leer, der Helm saß fest auf dem Kopf. Nun hatte Tungdil es wegen der Unterhaltung mit der Maga verpasst, ihrem Begleiter beim Essen zuzusehen. Er hatte nicht einmal gehört, dass die Rüstung einen verräterischen Laut von sich gegeben hätte. Allmählich wurde ihm der Kämpfer unheimlich.

Das Geborgene Land, das Zwergenreich des Zweiten, Beroïn, im Spätsommer des 6234sten Sonnenzyklus

Balendilín kam nicht mehr zur Ruhe. Eben kehrte er in seine Kammer zurück, als er die Botschaft erhielt, zwei Zwerge aus der Abordnung der Vierten wollten ihn sprechen.

Das ist ein gutes Zeichen. Noch mehr mit Verstand. Gandogars Clans besinnen sich. Sogleich begab er sich auf den Weg zum erbetenen Treffpunkt, der in der Nähe der Viehweide lag.

Der Berater des Großkönigs hatte gute Laune. In den vergangenen Wochen hatte seine Aufgabe in erster Linie darin bestanden, die Gerüchte um den schlechten Gesundheitszustand Gundraburs zu zerstreuen. Tatsächlich erfreute sich das Oberhaupt der Zwergenstämme eines starken Herzens und eines noch viel stärkeren Willens, mit dem es ihm gelang, die Zwerge auf das Eintreffen des zweiten Anwärters zu vertrösten. Inzwischen sprach man sogar darüber, wie man die spärlichen Kontakte zwischen den Zwergenreichen auf Dauer aufleben lassen könnte.

Es läuft fast schon zu gut, dachte Balendilín, trat aus dem Gang und fand sich am einen Ende einer fünfzig Schritt langen Bogenbrücke wieder, die sich zweihundert Schritt hoch über den Resten einer Kupfermine spannte. Sorgsam setzte er einen Fuß vor den anderen und hing dabei seinen Gedanken nach.

Seine Ablenkungsstrategie hätte noch mehr Erfolg zu verzeichnen, wenn Bislipur nicht immer wieder auftauchte und die Flämmchen der Begeisterung über einen künftigen Elbenkrieg durch seine Hetzreden zum Aufflackern brachte. Er ist verantwortlich für Gandogars Ansichten, er flüstert seine Gedanken dem jungen König ein.

Plötzlich bemerkte er eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite. Als hätte Bislipur seine Gedanken durch die dicken Felswände des Gebirges vernommen, stand er unvermittelt vor ihm auf dem Gang, die Linke auf den Kopf seiner Axt gelegt. Auf Balendilín wirkte seine ganze Haltung wie eine stumme Drohung. Er blieb er stehen, um abzuwarten. »Was willst du?«

»Einige nennen es den ›Zwist der Krüppel‹«, rief er ihm entgegen, und die Höhlenwände warfen seine Stimme als Echo zurück. »Der Hinkende gegen den Einarmigen. Denkst du, dass sie Recht haben?«

Balendilín lauschte, ob er die Stimmen anderer Zwerge irgendwo in ihrer Nähe ausmachen konnte, doch dem war nicht so. Er war ganz auf sich allein gestellt. »Zwist ist der falsche Ausdruck«, antwortete er. »Wir haben unterschiedliche Ansichten und versuchen, eine Mehrheit zu erlangen.« Er machte einen, dann noch einen Schritt vorwärts, Bislipur tat es ihm gleich. »Also, was möchtest du?«

»Das Beste für unser Volk«, entgegnete der grimmige Zwerg.

»Ich meinte von mir.«

»Dass du einsiehst, dass Gandogar und ich die Zukunft der Zwergenstämme und Clans sind. Wie kann ich dich davon überzeugen?«

»Solange du einen Kampf gegen die Elben verlangst, wird es dir nicht gelingen, in mir einen Fürsprecher für deinen König zu finden«, antwortete Balendilín ehrlich und blieb stehen; Bislipur tat es ihm gleich. Fünfzehn Schritte trennten sie noch voneinander.

»Dann verstehe ich es als Zwist«, meinte der andere Zwerg kühl. »Bis eine Entscheidung gefallen ist, werde ich dich als Feind betrachten, der dem Wohl aller Stämme im Weg steht. Ich werde dafür sorgen, dass es die anderen Clans genauso sehen wie ich.« Als Balendilín weiterlief, setzte Bislipur seinen Weg ebenfalls fort, bis sie sich auf Armeslänge gegenüberstanden. »Und ich werde dafür sorgen, dass der von dir beeinflusste Großkönig ebenfalls die Klarheit seines Verstandes zurückgewinnt.«

Nun standen sie so dicht beieinander, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten.

»Du redest von Verstand? Du?« Balendilín erkannte die Ablehnung in Bislipurs Augen, die unversöhnliche Feindseligkeit. »Dir sage ich, dass ich den Krieg gegen Âlandur verhindern werde, mein zwergischer Bruder«, zwang er sich zu sagen, um nicht den Eindruck zu vermitteln, er fürchte sich vor ihm; und doch ging von ihm eine bislang nie erlebte Gefährlichkeit aus. »Deine eigenen Clans geraten ins Grübeln.«

»Du wirst mich und Gandogar nicht davon abhalten, den Thron zu besteigen«, prophezeite ihm Bislipur düster. Er strahlte eine aufgestaute Gewalt und Brutalität, die binnen kurzem auszubrechen drohte.

»Dich und Gandogar? Was willst du denn auf dem Thron?«

Regungslos standen sie auf der Brücke, keiner wandte den Blick ab. Dann aber fiel die bedrohliche Haltung Bislipurs von einem Augenblick auf den anderen in sich zusammen.