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Das Geborgene Land, Königreich Sangreîn im Jahr des 6234sten Sonnenzyklus, Frühherbst

Der Herbst zeigte der Wanderschar, dass man zumindest nachts nicht mehr mit ihm spaßen konnte. Sie gelangten zwar in den Süden und in die ersten kargen Ausläufer von Königin Umilantes Wüstenreich, aber trotz des feinen Sandes, der ihnen unablässig ins Gesicht wehte, war es keineswegs warm.

Sobald die Sonne ihren Umlauf beendete und die Dunkelheit hereinbrach, sanken die Temperaturen empfindlich, was dazu führte, dass Andôkai gegen den Willen der Zwillinge auf einem großen Feuer bestand. Boëndal vertrat die Ansicht, dass es die Orks und anderes Gesocks anlockte. So kurz vor dem Eintreffen ins Zweite Zwergenreich wollte er nichts mehr riskieren und das Leben des Thronanwärters um keinen Preis in Gefahr bringen. Selbst Boïndil gab seinem Bruder schweren Herzens Recht, doch das hinderte die Maga nicht daran, die Scheite eigenhändig in die Flammen zu legen.

Als sie ungefähr acht Umläufe vom Eingangstor der Festung entfernt waren, gönnten sie sich eine Unterkunft in einem Wüstendorf, welche an einem kleinen, beschaulichen See gelegen war. Entsprechend vielfältig und gut blühte der Handel.

Zahlreiche Kaufleute, die aus der Festung Ogertod kamen, wo sie mit den Zwergen Tauschgeschäfte betrieben, gönnten sich und ihrem Tross eine letzte Pause, bevor sie die langen Strecken durch die öde Landschaft Sangreîns antraten. Nach dieser Siedlung begegneten ihnen weiter nichts als Steine oder Wegelagerer.

»Keine Sorge. Die Menschen hier schätzen uns Zwerge, denn wir stehen für gute, solide Waren, mit denen man auf anderen Märkten hohe Gewinne erzielen kann«, erklärte Boëndal.

Tungdil bemerkte an den Blicken der Menschen, dass sie nur deshalb etwas Außergewöhnliches waren, weil Djerůn sie wie ein wandelnder Turm aus Eisen begleitete. Kinder standen staunend um den Krieger herum, der den Trubel mit enormer Gelassenheit ertrug. Er kannte die Aufregung um seine Erscheinung zur Genüge.

Wanderer fanden in Zelten am Ufer des Sees eine Unterkunft. Ganz nach Bedarf des Reisenden waren diese Zelte aus Holz und Leinen beliebig erweiterbar, und mithilfe von Zwischenböden ließen sich sogar zweistöckige, hausähnliche Gebilde errichten.

Weil der Krieger der Maga in kein gewöhnliches Zelt passte, ließen sie ein zweistöckiges errichten und verzichteten auf den Zwischenboden. Sie zogen sich vor dem auffrischenden Wind in den Schutz der Stoffwände zurück und entfachten in einer Nische ein kleines Feuer, um sich Tee zuzubereiten.

»Ich freue mich sehr und bin aufgeregt«, gestand Tungdil, während er an dem heißen Getränk nippte. »Bald werde ich meinen Stamm und meinen Clan treffen.«

»Ich kann dich verstehen«, meinte Boëndal und sah ihn freundlich an. »Mittlerweile dürfte es der Rat der Zwerge vor Neugier kaum noch aushalten. Sie mussten lange auf dich warten.«

»Tee!«, rief sein Bruder angewidert dazwischen. »Bei Vraccas! Das trinke ich nicht«, beschied er und stand auf. »Ich sehe mal nach, ob ich in diesem seltsamen Dorf ohne gescheite Wände irgendwo einen leckeren Schluck Bier auftreiben kann.« Sprach’s und verschwand aus dem Zelt.

»Was ist so Besonderes an dir, dass man eine Eskorte aussendet, die dich ins Reich des Zweiten bringt?«, fragte Andôkai, die über den ausgebreiteten Büchern brütete. Der Brief lag auseinander gefaltet auf ihrem Oberschenkel. Bislang hatte es sie nicht gekümmert, welche Aufgabe die Zwillinge hatten und warum Tungdil von seinem Volk gesucht wurde.

Der Zwerg zögerte. »Man möchte mich etwas fragen«, antwortete er ausweichend. »Es kann Euch egal sein. Ihr werdet das Geborgene Land ohnehin verlassen.«

Die Maga hob den Kopf; sie staunte über den forschen Ton. »Damit habe ich mir wohl dein ewiges Missfallen eingehandelt, oder? Sollte deine Bemerkung hingegen ein Versuch sein, mich bei meiner Ehre zu packen und auf diese Weise zum Bleiben zu bewegen, so spare es dir. Deine Worte verfehlen ihr Ziel.«

Boëndal hob hilflos die Augenbrauen.

Tungdil ärgerte sich über die Gleichgültigkeit der Maga. Ihm stand im Grunde viel Schlimmeres bevor. Er fand sein Volk wieder und kehrte zu ihm zurück, um höchstwahrscheinlich mit ihm unterzugehen, falls sich in den Büchern Goréns nicht irgendetwas verbarg, das Nôd’onn aufzuhalten vermochte. Wenigstens würde er an der Seite seiner Verwandten sterben …

Leise trappelte es gegen die Zeltwände, Regen setzte ein. Die Tropfen drückten den Staub zu Boden und auf die Zelte, wo er wirre Linien auf die Leinwand zeichnete. Das war für die Wüstenei Sangreîns im Herbst nichts Ungewöhnliches. Nässe und Trockenheit wechselten einander ab, was den Anbau von Getreide durchaus ermöglicht hätte, doch in der kargen Erde gedieh nichts. Nur an wenigen Stellen sprossen Halme und Bäume, die von den Besitzern eifersüchtig gehütet wurden.

Unvermittelt wurde die Abdeckung des Eingangs zur Seite gefegt, und eine Gestalt in einem Umhang drang ungebeten in ihre Behausung.

Djerůn erwachte wie eine lebendig gewordene Statue aus seiner Starre. Die gepanzerte Linke langte nach dem Zweihänder, die Rechte fasste nach, und schon schnellte der Krieger in eine kniende Position; die Schneide seines Schwertes pfiff durch die Luft und zielte auf die Kehle des Besuchers.

»Nein«, rief die Maga laut, und augenblicklich verharrte der Krieger.

»Verzeiht«, stammelte der vor Angst zitternde Mann, der ein Fass in beiden Händen trug. »Das hier sollte ich euch bringen. Ich wollte keinesfalls stören.« Er verneigte sich, stellte das Fass eilig auf den Boden und rannte hinaus, um nicht doch noch Opfer des Kriegers zu werden.

»Nicht schlecht«, zollte der Zwilling Djerůn seinen Respekt. »Für einen Gerüsteten ist er so schnell, dass es fast nicht mit rechten Dingen zugehen kann.«

Der Krieger setzte sich wieder im Schneidersitz auf den Boden; weder er noch seine Herrin reagierten auf die Bemerkung des Zwerges.

Aber der gab nicht auf. »Mein Bruder und ich haben uns bislang nicht weiter um den Riesen gekümmert, aber wenn er mit Euch zusammen durch die Hohe Pforte möchte, muss er den Wachen sein Gesicht zeigen und seine Herkunft offenbaren.«

»Das sind eigenartige Vorschriften«, befand Andôkai. »Was gehen die Zwerge die Gesichter derer an, die das Land verlassen wollen?« Ihre Stimme klang gereizt, sie hatte die ständigen Unterbrechungen satt. »Kümmert euch um die Verteidigung, nicht um diejenigen, die hinauswollen.«

»Es wird keine Kreatur Tions lebend in das Reich des Zweiten gelangen«, entgegnete der Zwerg mit Nachdruck. »Egal von welcher Seite.«

»Er ist ein gestreckter Mensch …«, versuchte es Tungdil.

»Ich habe das Spiel bislang mitgemacht, damit wir in Ruhe reisen können. Doch bald sind wir im Blauen Gebirge. Es ist das Gesetz unseres Volkes, dem sich die Reisenden zu beugen haben. Niemand hindert dich, einen anderen Weg durch das Gebirge zu suchen; aber durch unser Reich wirst du nicht laufen, wenn sich unter dem Helm etwas verbirgt, das unser Feind sein könnte«, beteuerte Boëndal grimmig.

»Wir werden sehen«, nickte die Maga.

»Heißt das, es ist eine Ausgeburt des Bösen, die dich begleitet? Die uns begleitet?«, rief er bestürzt.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber was, wenn es so wäre? Mein Gott Samusin verbietet es mir nicht.«

»Samusin? Den Namen dieses Gottes höre ich nicht gern.« Das Gesicht des Zwerges verfinsterte sich. Langsam stand er auf, und seine Hand griff nach dem langen Stiel des Krähenschnabels. »Was verbirgt sich hinter dem Visier?«

»Nun habe ich aber genug!«, entfuhr es Andôkai, während sie das Buch zuklappte, dass es knallte. »Selbst wenn Nôd’onn persönlich in der Rüstung steckte oder ein böser Geist oder ein Oger, so ginge es dich nichts an, Zwerg!« Nun zeigte die Maga, weshalb sie die Stürmische genannt wurde. »Er reist als mein Begleiter, und im Gegensatz zu dir und deinem Bruder benimmt er sich tadellos! Er stinkt nicht einmal wie ein Stallbock, was man von euch Zwergen nicht behaupten kann!« Ihre blauen Augen blitzten wütend; sie warf die blonde Haarsträhne, die ihr ins Antlitz gefallen waren, mit einer energischen Bewegung nach hinten. »Er wird sein Gesicht zeigen, wenn es ihm passt. Und wenn es dir nicht passt, tut es mir nicht einmal Leid.« Sie deutete nach rechts. »Übrigens gibt es da vorn ein Badehaus, das ich dir ans Herz legen möchte. Es ist ein Wunder, dass die Vögel nicht tot vom Himmel fallen, wenn ihr auftaucht.«