Sie schenkte ihnen einen kalten Blick, ehe sie sich ein anderes Buch nahm und es kraftvoll aufschlug.
In der darauf folgenden Stille hörten sie rasche Schritte, die sich ihrem Zelt näherten, und kurz darauf stand Ingrimmsch im Eingang.
»Spitzohren! Es sind Spitzohren hier!«, berichtete er aufgebracht. »Sie stammen aus Âlandur, sagte mir der Händler, und …« Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Bierfass, das ein wenig verloren vor ihm stand. »Hat denn keiner Durst?«, wunderte er sich und nahm eines seiner Beile, um den Deckel einzuschlagen. Er schöpfte sich einen Humpen voll und leerte ihn in einem Zug, um lautstark zu rülpsen. »Nicht schlecht«, freute er sich und tunkte den Behälter noch einmal ins Fass.
»Elben«, erinnerte ihn Andôkai scharf an seine Bemerkung, ehe er sich ganz dem Bier widmen konnte.
»Genau«, bestätigte Boïndil und setzte sich auf einen Lederhocker. »Ich kaufte gerade das Fass, als mich der Krämer fragte, ob ich denn schon die letzten Neuigkeiten aus Âlandur gehört hätte und die Niederlage meiner Feinde feiern wollte. Er meinte, die Elben stünden kurz davor, ihr Reich aufzugeben. Jetzt suchen ihre Kundschafter nach neuen Orten im Geborgenen Land, wo sie sich niederlassen können.«
»Und diese Kundschafter sollen sich auf den langen Weg nach Sangreîn gemacht haben?«, warf die Maga ungläubig ein. »Hier gibt es nichts, was die Elben mögen könnten. Keine Wälder, nur Staub, Steine und Sand. Ich finde das sehr merkwürdig.«
Tungdil blickte zu Boëndal und erkannte, dass ihm die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen.
Sein Bruder schien nach dem nächsten Schluck des Gebräus einen ähnlichen Geistesblitz zu haben. Wie so oft benötigte er etwas länger. »Du meinst, es sind Albae?«, fragte er schließlich.
»Nôd’onn hat nicht vor, die Bücher aufzugeben«, erwiderte Tungdil. »Und übersehen konnte man uns unterwegs wohl kaum. Ich weiß, warum sie erst jetzt in der Oase eintreffen«, erklärte er. »Nachts gleichen sie den Elben bis aufs Haar, denn die schwarzen Augen können sie in der Dunkelheit nicht verraten.«
»Demnach, Gelehrter, könnte es sich ebenso gut um echte Elben handeln«, gab Boëndal zu bedenken. »Wir werden Wachen einteilen. Wenn es Albae sind, haben sie es auf uns und die Bücher abgesehen. Einen anderen Zweck ihres Besuchs kann ich mir nicht vorstellen. Gleichgültig, was heute Nacht geschieht, niemand wird das Zelt verlassen. Wir lassen sie angreifen.«
»Wir sollten ihnen zuvorkommen«, knurrte Boïndil streitlustig; er hatte schon viel zu lange nicht mehr gekämpft. »Sind es Albae, verdienen sie den Tod. Sind es Elben, verdienen sie auch den Tod. Spitzohren sind tot einfach am besten zu ertragen.«
Andôkai verfolgte die Unterhaltung stumm, dann gab sie Djerůn ein knappes Handzeichen und legte sich zur Ruhe.
»Nein, Bruder, wir werden sie in Ruhe lassen«, entgegnete Boëndal nachdrücklich. »Es könnte sein, dass wir die ganze Siedlung gegen uns haben, wenn wir einen Kampf anzetteln. Noch befinden wir uns nicht in unserem eigenen Reich. Kühle dein Gemüt. Ich halte die erste Wache.«
Tungdil gähnte und trank noch einen Humpen Bier, ehe er sich mit gemischten Gefühlen auf dem Stapel Teppiche ausstreckte. Seine Hand umfasste den Axtgriff, der ihm ein wenig Sicherheit vermittelte. Beinahe wünschte er sich, dass die Albae sie angriffen. Das würde die Maga von der Wichtigkeit der Bücher überzeugen.
Tungdil war gerade eingedöst, als ein gellender Alarmruf durch die Oase schallte. Die Zwerge waren sofort auf den Beinen und hielten die Waffen kampfbereit. Selbst Andôkai stand mit gezücktem Schwert im Zelt und richtetete den Blick abwechselnd auf den Eingang und auf die Zeltwände.
Djerůn kniete sich mit Axt und waagrecht gehaltenem Schild vor den Einlass, um eine unüberwindbare Barriere zu bilden. Das Visier in Form der Dämonenfratze schimmerte auf und wirkte im Licht des herunterbrennenden Feuers beinahe lebendig. Tungdil glaubte, für einen winzigen Moment ein violettes Leuchten hinter den Augenöffnungen gesehen zu haben.
Boëndal löschte das Feuer, damit ihre Schatten von außen nicht zu sehen wären und sie verrieten. Die drei Zwerge stellten sich Rücken an Rücken, die Frau verharrte einen Schritt neben ihnen.
Vorerst blieb es still, doch dann gellten grässliche Todesschreie durch die Nacht. Nun kam Leben in die anderen Zelte, Menschen verließen die leichten Behausungen und redeten durcheinander, um zu erfahren, was der Grund für den Aufruhr sei. Bald sahen sie die verzerrten Silhouetten und Schatten der vorübereilenden Kaufleute auf den Leinwänden tanzen und vernahmen das Klirren von eilig angelegten Rüstungen und Panzerungen, Schilde schlugen leise gegen Zeltgestänge oder Waffenscheiden. Die Wüsteninsel erwachte zu ungewohnter Stunde und rüstete sich.
»Eine Ablenkung oder ein echter Überfall?«, raunte Tungdil. »Was denkt ihr?«
Irgendwo im Lager brüllte jemand voller Entsetzen »Orks!«, dann krachten Schwerter aufeinander. Der Kampf hatte begonnen.
Sobald die anschleichenden Bestien entdeckt worden waren, bemühten sie sich nicht länger, leise zu sein. Tungdil hörte ihre grunzenden und quiekenden Rufe. Unwillkürlich erinnerte er sich an Gutenauen, an den Stollen, an all die Toten …
Er fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits wollte er hinaus, um den Menschen bei der Verteidigung zu helfen, andererseits lauerten die Albae vielleicht in ihrem Rücken und warteten nur darauf, dass sie sich zeigten.
»Was tun wir?«, erkundigte er sich nervös bei den kampferfahrenen Zwillingen.
»Warten«, gab Boëndal angespannt zurück, und seine Hand legte sich fester um den Stiel des Krähenschnabels.
Das Geklirr der Waffen wurde lauter und heftiger; der Kampflärm und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden erklangen nun in der ganzen Siedlung. Die Orks mussten die Oase umzingelt und von allen Seiten auf einmal angegriffen haben, um zu verhindern, dass die Menschen an einer Flanke ausbrachen und durch die Lücke entkamen.
Die Gefechte näherten sich nun ihrem Zelt. Wie bei einem Schattentheater konnten sie die Kämpfe zwischen Menschen und Bestien auf den Stoffwänden ihrer Behausung verfolgen.
Boïndil beriet sich kurz mit seinem Bruder. »Wir gehen«, verkündete er ihren Entschluss. »Die Schweinchen werden siegen, und du, Tungdil, bist zu wichtig, um dich in Gefahr zu bringen. Wir …«
Da sprang ein bewaffneter Ork grunzend durch den Eingang und prallte aus vollem Lauf gegen Djerůns Schild, der sich ihm wie eine Wand aus Eisen entgegenstemmte.
Benommen und mit blutender Nase taumelte er einen Schritt zur Seite, als die Axt des Kriegers von oben schräg in sein linkes Schlüsselbein drang. Knochen und Teile der Rüstung gaben unter der Wucht des Hiebes nach; in zwei schräge Hälften zerteilt, fiel das Ungeheuer zu Boden. Blut und Gedärme verteilten sich, und es stank.
»He! Ich habe dir gesagt, dass sie mir gehören, Langer!«, beschwerte sich Boïndil augenblicklich. »Den Nächsten lässt du durch, verstanden?!«
Ein zweiter Gegner stürmte ins Zelt. Andôkai rief Djerůn etwas Unverständliches zu, und schon schwang der Schild zur Seite. Der Ork rannte blindlings vorwärts, ehe er den toten Artgenossen auf dem Boden und den gewaltigen Kämpfer neben dem Einlass bemerkte.
»Er hat ihn wirklich durchgelassen!«, freute sich der Zwerg und sprang nach vorn, um den Angreifer niederzustrecken, was ihm ohne Schwierigkeiten gelang. Die Beile verrichteten ganze Arbeit, und das Ungeheuer starb quiekend.