Auf halber Strecke eilte ihnen Ingrimmsch mit besorgter Miene entgegen. Als er das Blut am Kettenhemd des Thronanwärters sah, wurden seine Lippen zu dünnen Strichen, und er presste die Kiefer aufeinander. Der Zwerg ahnte, dass es ohne Djerůn für seinen Schützling schlecht ausgegangen wäre.
Als sie zu den anderen gelangten, sahen sie Andôkai, die einem auf der Erde kriechenden verletzten Alb gerade den Kopf von den Schultern schlug. Kurzerhand nahm sie sich das Kristallamulett, mit dem er ihre magische Attacke abgewehrt hatte. Sie atmete so heftig, dass die Lederrüstung von ihrer Oberweite beinahe gesprengt zu werden drohte. Die Maga schien am Ende ihrer körperlichen Kräfte.
Drei Albae waren von ihr, Djerůn und den Zwillingen vernichtet worden. Sie nickte Tungdil knapp zu, um sich daraufhin nach Süden zu wenden und die Spitze der kleinen Truppe zu bilden.
Boëndal sickerte Blut den Hals hinab, doch das störte ihn nicht weiter, denn Zwerge waren hart im Nehmen.
Tungdil biss die Zähne zusammen und stapfte seinen Begleitern hinterher. Zum Verbinden der Wunden bliebe später genügend Zeit; jetzt mussten sie sich und die Bücher vor den Helfern Nôd’onns in Sicherheit bringen und so schnell wie möglich in die Zwergenfeste gelangen.
Sie liefen einen Sandhügel hinauf, wo Djerůn sich mit drei Orks anlegte, die offenbar Wache halten sollten.
»Jetzt ist es aber genug!« Ingrimmsch eilte sofort an seine Seite, um sich voller Inbrunst am Kampf gegen die Orks zu beteiligen. Er legte alle Wut, die er wegen seiner Nachlässigkeit auf sich selbst hatte, in die Schläge und schaffte es, zwei der Grünhäute zu erlegen.
»Siehst du?«, rief er Djerůn zu. »Ich bin schneller als du!«
Der Kampflärm im Lager unter ihnen wurde schwächer. Wie sie an dem triumphierenden Gequieke und Gejohle erkannten, hatten die Horden ihren blutigen Sieg über die Kaufleute und Verteidiger der Oase errungen. Noch mehr Zelte gingen in Flammen auf, Leichen wurden zerteilt und die Stücke zum Abtransport auf Wagen geworfen. Ein Trupp Orks entdeckte die Entkommenen auf der Spitze der Erhebung und machte sich an die Verfolgung. Bald stürmten zwei Dutzend Bestien zu ihnen herauf.
»Sie haben noch immer nicht genug.« Andôkai wartete und ließ sie weiter herankommen, dann reckte sie die Arme in die Höhe und sprach eine Formel.
Starker Wind erhob sich wie aus dem Nichts und bildete einen Wirbel von vier Schritt Durchmesser, der sich mit jeder Silbe aus dem Mund der Maga vergrößerte. Er sog Sand, Geröll und Steine an, ehe er sich auf ihr Geheiß gegen die verunsichert abwartenden Bestien warf.
Der Wind und das feine Gestein schälten ihnen die Haut vom Fleisch. Kreischend und heulend versuchten die Orks vor dem verheerenden Wirbel zu flüchten.
»Geht weiter«, befahl sie den Zwergen. »Ich beschäftige sie noch eine Weile und hole euch dann ein.«
Die Zwerge taten, wie ihnen geheißen, und setzten sich in Bewegung. Bald darauf tauchte die Maga wieder in ihrer Mitte auf; Djerůn lief am Ende und achtete darauf, dass ihnen niemand folgte.
Doch dieses Mal hatten die Orks genug. Sie waren im Gegensatz zu Albae nicht darauf vorbereitet, gegen Magie ins Feld zu ziehen. Und sie hatten in dieser Nacht ohnehin genug Beute gemacht.
X
»Ich verlange, dass die Versammlung der Stämme heute eine Entscheidung fällt«, sagte Gandogar laut, damit ihn alle in der großen Halle hörten. Er hatte seine Rüstung angelegt und seinen mit Diamanten besetzten Helm aufgezogen, um auf die Clans Eindruck zu machen. »Wir haben dreißig Umläufe gewartet, doch nichts geschah …« Die Anwesenden hörten schweigend zu, als er seine Rede fortsetzte.
Großkönig Gundrabur saß auf seinem Thron, den Hammer quer auf den steinernen Lehnen abgelegt, und lauschte mit geschlossenen Augen. Sein Berater Balendilín folgte der Rede mit verschlossener Miene. Es war ihm bisher nicht gelungen, Bislipur oder seinen gnomischen Handlanger Swerd zu belasten, und zu allem Unglück kippte die Stimmung bei den Clans.
»Wir alle haben den Rauch gesehen, der nicht weit von hier aufstieg.« Gandogar drehte sich einmal im Kreis, damit alle ihn sahen und er in die Gesichter der Zwerge schauen konnte, deren Vertrauen er benötigte. »Den Berichten zufolge waren es Orks! Die Brut Tions verlässt ihr Reich, um das Geborgene Land offen anzugreifen. Unser Volk braucht Gewissheit, wenn es um die Nachfolge Gundraburs geht. Jeder Sonnenumlauf bringt neue Schwierigkeiten; die Händler erzählen von seltsamen Ereignissen in den Zauberreichen und in Âlandur. Angeblich suchen die Elben eine neue Bleibe, weil sie ihr Reich aufgeben möchten. Wir können nicht länger warten!«
»Mit dem Krieg oder mit der Wahl eines Thronfolgers?«, fragte jemand aus den Reihen der Abgesandten.
»Mit beidem«, donnerte Bislipur an Gandogars statt. Das Geschwätz brachte sein Zwergenblut zum Kochen, er konnte die endlosen Reden nicht länger ertragen. »Wir müssen die Spitzohren angreifen und vernichten, bevor sie unauffindbar in fremden Wäldern verschwinden.« Er ballte seine Finger zusammen. »Rache für all unsere Ermordeten!«
Die Mehrheit der Versammelten rief ihre Zustimmung. Nur ein kleiner Teil blieb stumm oder zeigte seine Ablehnung durch Kopfschütteln und abweisende Mienen.
Gandogars Blick fiel auf den Zwerg, der das abgeschnittene Elbenohr an seiner Kette baumeln ließ. Der Feldzug schien eine sichere Sache zu sein. Was ihm dazu noch fehlte, war der Titel des Großkönigs, an den sich der greise Gundrabur mit aller Macht klammerte.
Die müden Augen des Herrschers aller Stämme öffneten sich langsam. »Schweigt!«, verlangte er gebieterisch. »Ihr benehmt euch wie gierige Bestien, die frisches Fleisch riechen«, schalt er. Seine knorrige Hand deutete auf den Abgesandten, der die Trophäe um den Hals trug. »Nimm es ab.«
Der Zwerg zögerte, seine Augen wanderten Hilfe suchend zu Gandogar.
Gundrabur packte den Hammer, erhob sich vom Thron und stieg die Stufen herab, um sich vor den Ungehorsamen zu stellen. Die faltigen Finger umschlossen die Kette und rissen sie entzwei; das Elbenohr fiel auf die Steinplatten.
»Noch bin ich der Großkönig«, donnerte er, »ich bestimme die Geschicke der Zwergenstämme. Wir warten, bis der …«
»Wir warten nicht länger«, unterbrach ihn Gandogar. »Ich bin es Leid, im Gebirge zu sitzen und zu reden, während die Elben entkommen und die Orks umherstreifen.«
Balendilín kam die Stufen herab und stellte sich vor den König der Zweiten, die Hand an die Steinschließe gelegt. »Du redest zum Großkönig, Herrscher über die Zweiten«, maßregelte er ihn scharf und ohne Rücksicht auf den Titel.
»Ich rede zu einem Zwerg, der in seinem Amt zu alt geworden ist, als dass er noch klare Beschlüsse fassen könnte«, entgegnete Gandogar aufgebracht. »Ich werde mich dem Starrsinn nicht unterwerfen und zusehen, wie die beste Gelegenheit auf Vergeltung ungenutzt verstreicht. Alles ist im Umbruch, und wir müssen handeln und nicht endlose Streitgespräche führen oder uns Bier in den Hals schütten, bis wir besoffen auf unser Lager fallen, nur um am nächsten Tag mit dem Schwafeln und Saufen fortzufahren!«
Balendilín neigte seinen Kopf leicht nach vorn. »Was du im Begriff bist zu tun, König Gandogar, gefällt mir nicht. Du kannst nicht gegen die Gesetze unseres Volkes verstoßen.« Sein ausgestreckter Arm deutete auf die Tafeln, auf denen all die Texte eingemeißelt waren. »Wer daran rüttelt, zerbricht die Grundlage und die letzten Reste unserer Gemeinschaft. Sollte das deine Absicht sein, so nimm deinen Hammer und zerschlage die Platten! Schreibe deine eigenen Gesetze, aber die Geschichte wird dich und deine Taten nicht vergessen.«
Bislipur stellte sich neben Gandogar, die Hand an der Axt. Die Spannung in der Halle wuchs beängstigend, ein offener Ausbruch von Gewalt lag in der Luft.