Bislipur setzte sich auf das Bett und betrachtete ihn ganz genau. »Du willst also einer von unserem Stamm sein?«, fragte er spöttisch. »Ein Findelkind, das bei einem Zauberer groß gezogen wurde, und, wie ich hörte, von königlichem Blut. Man soll es nicht für möglich halten« Er lehnte sich vor. »Ich halte es auch nicht für möglich. Ich sage dir auf den Kopf zu, dass du ein Hochstapler bist. Wo sind die Beweise deiner Herkunft?«
»Die wirst du sehen, wenn es an der Zeit ist«, erwiderte Tungdil störrisch. Ohne die Unterredung mit Balendilín und dem Großkönig hätte er sicherlich genickt und dem Widersacher gegenüber sofort seinen Verzicht erklärt. Er war sogar kurz vor dem Einschlafen noch einmal ins Wanken geraten, ob er bei dem Spiel mitmachen sollte, doch Bislipurs Verhalten wischte jegliche Zweifel fort.
»Es kann sich niemand daran erinnern, dass den Vierten ein Zwergenkind verloren gegangen wäre.«
»Und du kennst tausende von Zwergen der Vierten von Angesicht zu Angesicht, weißt ganz genau, wo sie im Gebirge wohnen, und erfährst von jeder noch so kleinen Tragödie, die sich ereignet?«, konterte er und stand auf. Deutlich spürte er, dass die langen Abende in der Bibliothek, das Lesen und die Dispute mit Lot-Ionan, die ihn im Reden geschult hatten, nicht umsonst gewesen waren. Da er sich ohne Kettenhemd und ohne Waffe nackt fühlte, warf er sich das Ringgeflecht über und legte sich den Gurt mit der Axt um. Sogleich kehrte die Selbstsicherheit zu ihm zurück. »Warte ab, was ich dir zu sagen habe, und deine Augen werden sehen.«
»Das glaube ich nicht. Wie wäre es, wenn du gar nicht im Rat erscheintest?«, unterbreitete Bislipur ihm das Angebot. »Lass dein Vorhaben sein, und wir nehmen dich in unserem Stamm auf. Wir geben dir alles, was du benötigst, dein ganzes Leben lang. Dafür unterstützt du Gandogar, anstatt ihn zu bekämpfen.«
»Andernfalls?«
»Du hast also verstanden.« Bislipurs breite Hand legte sich auf den Kopf der Waffe. »Andernfalls wirst du sehen, was es bedeutet, sich als Angehöriger der Vierten, falls du das sein solltest, gegen das Oberhaupt des eigenen Stammes zu wenden. Niemand von uns wird dir Gefolgschaft leisten. Du wirst niemals ein echter Großkönig sein.«
Tungdil hörte an der mühsam beherrschten Stimme, dass es keine leeren Versprechungen waren, die ihm der Zwerg mit dem graubraunen Bart gab. »Die Versammlung entscheidet, nicht du allein«, wies er ihn zurecht und gab sich Mühe, ein wenig nach einem möglichen Herrscher zu klingen. »Geh«, befahl er ihm.
»Andernfalls?«, imitierte der breit gebaute Zwerg die Frage des Thronanwärters.
»Du hast sehr wohl verstanden. Andernfalls bringe ich dich zur Tür. Ich habe Orks und Albae überstanden, da werde ich mit einem Zwerg, der wie ein Dieb in meine Kammer eindringt und mich aus dem Schlaf reißt, auch noch fertig werden«, polterte Tungdil. Aus der Sympathie war offene Abneigung geworden. »Raus!«
Bislipur schien abzuwägen, ob er es wagen konnte, sich auf eine Kraftprobe einzulassen, entschied sich dann aber zu Tungdils Erleichterung dagegen und verließ grußlos den Raum. »Du hättest auf mich hören sollen«, rief er noch.
»Ich hätte in meinem Leben schon vieles tun sollen.« Tungdil stemmte die Hände in die Hüften, neigte den Kopf ein wenig vor und betrachtete sich im Spiegel neben dem Bett. Er machte ein entschlossenes Gesicht, versuchte sich zu merken, welche Muskeln er dazu brauchte, und kleidete sich an. Dabei wäre ihm danach gewesen, sich hinzulegen und unter der Decke zu verkriechen.
Als er gerade sein Nachthemd auszog, öffnete sich die Tür nach kurzem Klopfen erneut. Eine Zwergin in Rock und Lederbluse trat ein und brachte einen Stapel frischer Wäsche, den sie auf der Steinkommode ablegte. Sie kicherte, als sie Tungdil wie angewurzelt dastehen sah. Was tue ich jetzt?, dachte er verzweifelt. Doch noch ehe er etwas zu ihr sagen konnte, verschwand sie rasch wieder aus seiner Kammer.
»Ich bin wohl kein Herzensbrecher«, meinte er zu sich selbst und fuhr langsam damit fort, sich anzuziehen, während er über alle möglichen Dinge nachgrübelte.
Die Ungewissheit über seine Herkunft grämte ihn. Er befand sich mitten unter seinem Volk und war dennoch der einsamste Zwerg des Geborgenen Landes. Selbst bei den Menschen hatte er im Grunde bessere Tage erlebt, weil er zu Lot-Ionan und der Zauberschule gehört hatte.
Im Blauen Gebirge aber musste er sich als ein Vierter ausgeben und so tun, als freute er sich, endlich zu seinem Stamm gefunden zu haben. Tungdil empfand sich als zweifacher Betrüger, auch wenn er hehre Absichten verfolgte.
Um sich ein wenig abzulenken, las er den Brief des ermordeten Magus und brannte sich jede Einzelheit über seine erfundene Herkunft ins Gedächtnis, um der Befragung im Rat Stand halten zu können. Dann aber hielt ihn nichts mehr in seiner Kammer, und er streifte mit knurrendem Magen durch die erhaben gestalteten Felsgänge.
Unterwegs begegneten ihm zahlreiche Zwerge, die ihrem Äußeren und ihren mit Steinmehl behafteten Lederschürzen nach Arbeiter in den Steinbrüchen sein mussten. Sie grüßten ihn freundlich, und er erwiderte die Geste mit einem Nicken.
Ein Bote fing ihn unterwegs ab, um ihn zu seinem Frühstück zu bringen. Das verwunderte Tungdil zwar, aber als er wenig später Balendilín gegenübersaß, verstand er, dass es um die letzten Anweisungen vor dem Auftritt in der Versammlung ging.
»Wir haben alles vorbereitet, sorge dich nicht«, beruhigte ihn der Berater. Tungdil fand es faszinierend, wie die steinernen Zierspangen in den Bartsträhnen seines Gegenübers hin und her pendelten. »Wir haben drei Vernünftige bei den Vierten auf unserer Seite, die so tun werden, als hätten sie einmal etwas von einem verlorenen Kind gehört«, eröffnete er ihm. »Zusammen mit den Zeilen deines Magus reicht das fürs Erste aus, einen halbwegs glaubwürdigen Eindruck zu schaffen. Du wirst eine Rede halten …«
»Eine Rede?«, echote Tungdil und wandte den Blick von den intensiv riechenden Käsesorten, den verschiedenen Dauerwürsten, eingelegten Höhlenpilzen und dem gerösteten Stollenmoos ab. Schinken fehlte ebenso wenig wie Grütze und Brot, doch die Nachricht von der zu haltenden Ansprache wirkte sich auf seinen eben noch verspürten Hunger äußerst nachteilig aus.
»Sie muss nicht lang sein. Packe deine Erlebnisse und dein Wissen über das Tote Land hinein. Du wirst in der Abstimmung verlieren, was aber nichts macht. Wir gehen nach der Wahl Gandogars zur nächsten Stufe unseres Plans über.« Balendilín zwinkerte. »Keine Sorge«, beteuerte er aufs Neue.
»Keine Sorge, das sagt sich leicht«, seufzte Tungdil und lud sich von allem etwas auf seinen Holzteller. Dabei erzählte er vom Besuch und dem Angebot Bislipurs.
»Das passt zu ihm«, meinte Balendilín nicht im Geringsten erstaunt. »Weißt du, was das bedeutet? Wir sind auf dem richtigen Weg. Wenn der Griesgram bei dir vorspricht, ist das ein gutes Zeichen.«
Tungdil dachte ein wenig anders darüber. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, dass Balendilín von einem Anschlag gesprochen hatte, und er traute Bislipur eine ähnliche Tat gegen ihn durchaus zu.
»Übrigens«, sagte der Einarmige, »die Zauberin hat uns mitsamt ihrem Krieger verlassen.«
»Was?«, entfuhr es dem Zwerg entsetzt. Sie hat tatsächlich aufgegeben und ihre Heimat ohne Zögern verlassen! »Wann ist sie aufgebrochen?«
»Heute Morgen, direkt nach Sonnenaufgang. Wir haben sie über die Brücke gehen lassen, weil es keinen Grund gab, sie aufzuhalten. Und außerdem … wie hält man eine Zauberin auf?«
»Gar nicht.« Tungdil schnalzte mit der Zunge. Mit ihr schwand die letzte Hoffnung, Nôd’onn einen in etwa gleichwertigen Gegner entgegenzustellen. Andôkai war wohl zu der Ansicht gelangt, dass sie die Verschlüsselung der Werke Goréns nicht lösen konnte, und suchte sich lieber eine neue Bleibe, um in der Wildnis nach Magiefeldern zu suchen. Warum haben Maira oder Lot-Ionan nicht überlebt? Sie wären geblieben und hätten uns gegen den Abtrünnigen beigestanden, dachte er niedergeschlagen.