»Jetzt ist es an dir, den Versen der Menschengelehrten die wahre Bedeutung zu entlocken«, ermunterte ihn Balendilín. »Die Schriftrollen unserer Sammlungen stehen dir offen, falls sie dir eine Hilfe sind.«
»Eure eigenen Gelehrten sollen sich besser damit befassen«, murmelte Tungdil.
Balendilín schüttelte den Kopf. »Sie verstehen die Zauberersprache nicht. Niemand kennt die Magi so gut wie du.« Er sah den verzweifelten Zwerg verständnisvoll an. »Die Bürde, die wir dir auflasten, ist schwer, aber der Dank wird umso größer sein. Schon jetzt stehen wir in deiner Schuld.«
»Ich werde es versuchen«, antwortete er tapfer kauend und stieß leise auf. Der Käse hatte es ihm angetan, aber sein Magen gewöhnte sich nur langsam an die rauen Mengen der Kost. Dazu trank er gesäuerte Milch, in die er einen Löffel Honig tat, um sie sich ein wenig zu versüßen. Die Küche der Zwerge sagte ihm zu.
Er verließ Balendilín und kehrte in seine Kammer zurück; dieses Mal richtete er die Augen fest auf den Steinboden und verlor keinen Blick nach rechts oder links, um die in Stein gehauenen Schönheiten zu betrachten. Tungdil legte sich eine Rede zurecht, in die er alles, was ihn in den letzten Wochen bewegt hatte, einbringen wollte.
Zügig leerte Tungdil den Humpen mit dem schwarzen Starkbier, wischte sich über den Mund und wandte sich den Abgesandten zu. Geduldig hatten sie ihm zugehört, wie er den Brief Lot-Ionans verlas und seine königliche Abstammung aus dem Stamm der Vierten zu beweisen versuchte.
Die eingeweihten Zwerge aus den Clans der Vierten erinnerten sich wie abgesprochen, von einem solchen Vorkommnis gerüchteweise gehört zu haben, woraufhin Bislipur sie sogleich der Lüge bezichtigte.
»Warum ich meinen Anspruch erhebe, wollt ihr wissen«, sagte Tungdil laut in den Tumult hinein. Der Gerstensaft nahm ihm zum einen die Aufregung, zum anderen die Hemmungen, vor den vielen Vertretern der Zwergenstämme zu sprechen. »Weil ich die Schrecken des Toten Landes besser kenne als ihr und weil ich weiß, dass es auf die Einigkeit unseres Volkes ankommt, das sich nicht im kurzsichtigen Krieg gegen die Spitzohren aufreiben darf. Die Elben sind wenige, aber sie streiten noch immer gut.«
»Wir haben keine Angst vor ihnen!«, rief Bislipur aufgebracht dazwischen.
»So sterben wir furchtlos gegen sie. Nur tot sind wir dann allemal«, entgegnete Tungdil heftig. »Sie kämpfen seit hunderten von Zyklen gegen die gerissenen Albae. Glaubt ihr, wir wären da eine Bedrohung für sie? Die Elben sind die besten Langbogenschützen des Geborgenen Landes. Sobald wir uns ihnen auf dreihundert Schritt nähern, spicken sie uns mit ihren Pfeilen.«
»Wir werden uns gewiss nicht ankündigen«, mischte sich Bislipur wieder ein.
»Und du glaubst, dass es den Elben verborgen bleibt, wenn sich ihnen eine Streitmacht von tausenden Zwergen nähert? Dieser Krieg würde uns eine Niederlage einbringen, Clans!«, beschwor er sie. »Unsere von Vraccas gegebene Aufgabe ist es, das Geborgene Land zu verteidigen. Das Böse ist tief ins Innere dieses Landes vorgestoßen. An uns ist es nun, Nôd’onn mitsamt den Orks und allen anderen Kreaturen des Schreckens niederzuwerfen. Wenn es sein muss, auch zusammen mit den Spitzohren und Menschen!«
»Ich höre den Großkönig sprechen«, meinte Gandogar verächtlich, »nicht dich selbst. Man hat dir die Rede eingebläut.«
»Die Vernunft sitzt eben in unser beider Köpfe. Nur in deinem hat sich die Sturheit breit gemacht und dir den Verstand aus den Ohren hinausgedrückt«, antwortete Tungdil und erntete verhaltenes Gelächter.
»Die Elben«, donnerte Bislipur wütend und reckte sich zu seiner ganzen Größe auf, »müssen bestraft werden. Ihr habt die Zeilen über ihre Niedertracht am Steinernen Torweg vernommen. Die Spitzohren übten einst einen Verrat, für den wir sie nun endlich zur Rechenschaft ziehen können!«
»Und anschließend vernichtet uns Nôd’onn noch leichter, weil die Schlacht uns geschwächt hat!« Tungdil hämmerte mit der Faust gegen eine Säule. »Wollen wir es dem Verräter am Geborgenen Land wirklich noch einfacher machen? Warum öffnen wir seinen Horden nicht gleich die Tore? Sollen wir sie vielleicht fragen, ob sie mit uns gegen die Elben ziehen?« Er wartete, bis sich der Tumult etwas legte. »Ich bin im Besitz von Büchern des Magus, bei dem ich aufwuchs. Darin wird beschrieben, wie wir den Schrecken aus dem Norden besiegen können«, behauptete er kühn. »Ich muss die Schriften nur noch übersetzen, und dann wird unser Volk in der Lage sein, Nôd’onn zu vernichten! Überlegt, welcher Ruhm uns als Rettern des Landes zufiele! Unsere glorreiche Tat würde den Elben eine Erniedrigung bescheren, die weit schwerer wiegt als eine gewonnene Schlacht gegen sie.«
Nun tuschelte die Menge. Ein Mittel gegen das Tote Land, das waren Neuigkeiten!
»Alles erstunken und erlogen!«, brauste Bislipur auf. »Magie hat uns noch nie geholfen, sondern nur Unheil gebracht. Ohne sie hätte der Hexenmeister niemals solche Macht erlangt.«
»Ich sage, wir kämpfen gegen die Elben und ziehen uns in die Berge zurück, bis die Menschen die Angelegenheit selbst geregelt haben«, fügte Gandogar hinzu, der aufgesprungen war. Er stürmte in die Mitte des Halbkreises, um die Blicke der Clanabgesandten auf sich zu ziehen. »Hört nicht auf den dahergelaufenen Zwerg, der uns und unsere Lebensweise nur aus Büchern kennt! Wie könnte so einer uns verstehen?« Er lachte laut. »Er und ein Großkönig? Lächerlich!«
»So lächerlich kann es nicht sein, sonst regtest du dich nicht so auf«, bemerkte Tungdil spitz und hörte wieder verhaltene Lacher. Lot-Ionan wäre stolz auf ihn, auch wenn das Bier seine Zunge gefährlich lockerte. Ich muss Acht geben, sagte er sich.
Gundrabur hatte genug gehört. Er hob seinen Hammer, das schwere Ende krachte gegen die Marmorplatten. »Genug! Der Rat hat die Worte vernommen und muss nun eine Entscheidung fällen. Wer von euch Gandogar Silberbart aus dem Clan der Silberbärte, König der Vierten, als meinen Nachfolger auf dem Thron des Großkönigs sehen möchte, der hebe die Axt.«
Die Augen Tungdils wurden groß, als er die emporgereckten Waffen sah. Die Anhängerzahl des Herrschers über die Vierten war auf gerade einmal zwei Drittel geschrumpft, und bei der Gegenprobe hoben sich deutlich mehr Äxte für den Außenseiter als angenommen. Balendilín nickte ihm anerkennend zu.
Doch am Ausgang der Abstimmung änderte sein Achtungserfolg nichts, die Mehrheit wollte Gandogar und damit den Krieg. Bislipur richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er sah sich seinem Ziel ganz nahe und zeigte seine Zufriedenheit.
»So wäre König Gandogar der nächste Großkönig«, sagte Gundrabur fest, »wenn ich ihn für geeignet hielte. Aber ich, der amtierende Großkönig, spreche ihm die Tauglichkeit wegen seines Unverständnisses ab, mit dem er die Stämme und Clans in den Untergang zu führen gedenkt. Stattdessen schlage ich Tungdil als meinen Erben vor. Finde ich Unterstützung bei den Abgesandten der Stämme?«
Fassungslos sahen Gandogar und Bislipur mit an, wie sich die Axtköpfe von einem Drittel des Rates hoben und dem Großkönig die notwendige Menge verschafften.
Gundrabur schmetterte den Hammer wieder auf den Boden. »Dann ist es beschlossen, dass die beiden Bewerber sich in einem Wettstreit messen, damit ihre Fertigkeiten entscheiden. Jeder von ihnen schlägt eine Aufgabe vor. Zwei weitere kommen aus der Versammlung, die fünfte wird ausgelost. In sieben Sonnenumläufen werden sie beginnen«, verkündete er feierlich. »Die Versammlung ist beendet.«
Tungdil wandelte wie benommen durch das kleine Spalier von Zwergen, die ihm auf die Schulter klopften und ihm Glück sowie den Segen von Vraccas wünschten. Die unterschiedlichsten Gesichter, Bärte und Rüstungen tauchten wie aus einem Nebel vor ihm auf und verschwanden wieder, während das ungewohnt starke Bier und die Begeisterung über sein gutes Abschneiden ihre Wirkung zeigten. Ihm war es gelungen, etliche der Abgesandten von seinem Anliegen zu überzeugen, doch trotz seiner Freude darüber konnte er nicht vergessen, dass sein Erfolg auf einer Lüge aufgebaut war.