Emsig schleppte Tungdil die alten Bücher, Pergamentrollen und Steintafeln durch die herausgemeißelten Gewölbe, um sie auf einem Tisch zu stapeln, wo er sie in Ruhe studieren konnte.
Lot-Ionan muss geahnt haben, dass ich eines Tages all das Wissen benötigen würde. Manche der Schriftstücke hielten der Berührung des Zwerges nicht mehr Stand, sie rissen ein, brachen oder zerfielen gar. Da lobte er sich die Marmorplatten, die Ewigkeiten überdauerten, wenn man sie nicht fallen ließ.
Nachdem er etliches gelesen hatte, fand er die vagen Aussagen Balendilíns bestätigt. Es gab wohl auch auf der anderen Seite des Gebirges Zwerge, die »Untergründige« genannt wurden. Ob Vraccas sie einst geschaffen hatte, wusste er nicht zu sagen, aber sie schienen seinem Volk sehr ähnlich zu sein, verstanden sich aufs meisterliche Schmieden und teilten die Liebe zur Esse und zur Glut.
Am vierten Umlauf erkundete er das Geheimnis der Feuerung von Drachenbrodem, und seine Zuversicht, die er sich bis dahin tapfer bewahrt hatte, sank.
Die Fünften hatten dem Großen Drachen Branbausíl, der einst im Grauen Gebirge gelebt hatte, seine weiße Flamme abgerungen und damit ihre Esse entzündet, ehe sie ihn getötet und seinen Hort erobert hatten. Sein Weibchen, Argamas, war vor den Zwergen in den Feuersee geflüchtet, ein kleines Meer aus flüssigem, brodelndem Stein tief im Inneren des Reiches, und seither nie wieder zum Vorschein gekommen.
Mit Drachenbrodem war es den Schmieden gelungen, Hitze von nie gekannter Intensität zu erzeugen und Metalle miteinander zu verbinden, die als nicht schmelzbar galten. Selbst das schwarze Tionium, das von Gott Tion erschaffen worden war, hatte sich dem Drachenbrodem ergeben und sich mit dem reinen, weißen Palandium der Göttin Palandiell vereinen müssen.
Spätere Aufzeichnungen berichteten davon, dass die Glut mit dem Untergang des Reichs der Fünften geschwunden war; die Albae und anderen Geschöpfe Tions hatten mit dem seltsamen weißen Feuer nichts anzufangen gewusst und es gelöscht.
Tungdils einzige Hoffnung stützte sich auf das Weibchen des Drachen, die den Äxten der Fünften entkommen war. Von ihr benötigten sie das Feuer und von den Ersten den Schmied, um die Feuerklinge gegen Nôd’onn herzustellen.
»Das wird eine neuerliche Reise«, seufzte er. Zu den Ersten und von dort geradewegs ins verlorene Reich der Fünften, mitten ins Herz des Toten Landes. Aber wie soll ich dorthin gelangen?
Diese Frage stellte er auch Gundrabur und Balendilín, mit denen er sich in der Halle bei einem Humpen Bier traf, um von seinen Entdeckungen zu berichten; die Zwerge wechselten schnelle Blicke.
»Es gibt einen Weg«, eröffnete ihm der Großkönig. »Es ist ein Geheimnis, das in all den Zyklen in Vergessenheit geriet und das mir mein Vorgänger anvertraute.« Er entzündete eine Pfeife und paffte schmatzend. »Es stammt aus der glorreichen Vergangenheit unseres Volkes. In jenen glücklichen Tagen bedeutete das Reisen keine besondere Anstrengung. Die Zwerge nutzten unterirdische Tunnel, die kreuz und quer unter dem Geborgenen Land verliefen und die Reiche miteinander verbanden.«
»Tunnel … Dann könnten wir ungesehen bleiben. Wenn wir Ponys nehmen …«
»Du brauchst keine Ponys. Du kannst sie befahren.« Er ordnete sein Gewand und erbat sich eine weitere Decke, um sich zu wärmen. Sein Lebensfeuer kühlte weiter ab.
Tungdil runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht …«
»Kennst du die Loren, mit deren Hilfe das Erz aus den Stollen und Gruben gekarrt wird?«
»Sicher«, nickte er und verstand, was der Großkönig ihm sagen wollte. »Sie sind damit gefahren?«
Gundrabur lächelte. »Genau das. Sie reisten in geraden Linien von Goïmdil zu Borengar und wohin auch immer sie wollten. Es gab keine Sümpfe, keine Wildnis, keinen Regen und keinen Schnee, die ihnen die Fahrten erschwert hätten. So war es ihnen möglich, die wichtigen Hohlwege und bedeutsamen Passagen des Geborgenen Landes stets mit genügend Truppen zu sichern. Innerhalb weniger Umläufe bewegten sich ganze Heere tief unter der Erde von Norden nach Süden, während die Menschen, Elben und Zauberer von alldem nichts erfuhren.«
»Die Tunnel sind die Rettung«, rief Tungdil aufgeregt. »Wenn sie einigermaßen intakt sind, kann es uns gelingen, die Axt gegen den Verräter zu schmieden, ehe er die gesamten Königreiche und die Heere der Menschen niederwirft.«
»Ich weiß nicht, ob sie noch befahrbar sind«, gestand Gundrabur. »Die alten Aufzeichnungen, in denen die Rede von den Röhren ist, berichten, dass weite Strecken eingestürzt, unbenutzbar seien. Balendilín, hole sie uns bitte.«
»Und warum hat man die Tunnel nicht wiederentdeckt?«
»Der Bereich, in dem der Eingang liegt, war eines Tages mit Schwefeldämpfen verseucht, und die Zwerge zogen sich von dort zurück. Sie mieden das Gebiet, bis man die Tunnel vergaß«, antwortete Gundrabur.
Kurz darauf brachte Balendilín zwei alte Karten von den Eingängen zu den Röhren der Zweiten und von deren Verlauf tief im Innern des Blauen Gebirges. Sie waren gut verborgen, mehrfach gesichert, und zahreiche mechanische Vorrichtungen und Fallen bewahrten sie davor, von Eindringlingen benutzt zu werden. Das erklärte, weshalb sich das Böse nicht heimlich unter dem Geborgenen Land ausbreitete, sondern es auf dem Landweg erobern musste.
»Auf diese Weise können wir es schaffen«, sagte Tungdil zu den beiden Zwergen. »Ich bin bereit.«
»Sehr schön«, freute sich Balendilín und goss von dem Bier nach.
»Dafür lassen wir dir die Ehre, das verschollene Wissen entdeckt zu haben. Es wird bei den Clans Eindruck machen.« Sie prosteten einander zu und leerten ihre Humpen.
»Vraccas ließ mich das verlorene Wissen finden, damit uns die Aufgabe zukommt, das Geborgene Land vom Bösen zu befreien«, beendete Tungdil seine flammende Rede. »Warum sonst sollte er mich die Dinge finden lassen?«
»Es sind die Hinterlassenschaften aus einer großen Zeit«, sagte Gandogar, »auf die du gestoßen bist. Doch ich sehe nicht, dass sich darin eine brauchbare Wahrheit findet. Eine solche Klinge unbemerkt zu schmieden – mitten im Toten Land, in einer Esse, die von Drachenflammen entfacht werden muss –, das ist nicht möglich! Es ist ein Märchen, eine Legende, die aus Versehen zwischen die historischen Aufzeichnungen rutschte.«
»Für dieses Wissen starben unzählige Menschen«, fiel ihm Tungdil ins Wort. »Mich wollte man deswegen töten. Nôd’onn fürchtet sich davor, also muss es wahr sein! Schickt eine Expedition aus, die es wenigstens versucht! Vraccas ist auf unserer Seite«, bat er die Versammlung inständig.
»Und vergesst nicht, sie gut auszurüsten. Einen Drachen zu besiegen ist kein leichtes Unterfangen. Oder du erzählst ihm deine Geschichte, und er lacht sich zu Tode«, warf Bislipur voller Spott ein.
Tungdil verzichtete auf eine Abstimmung; das Gelächter des Rates verdeutlichte ihm, dass er keine Mehrheit dafür fände. Nach wie vor weigerte sich die Vernunft beharrlich, in die Dickschädel der Gesandten einzuziehen.
»Wir sind hier, um den Erben des Großkönigs zu bestimmen«, erinnerte Gandogar die Abgesandten ungeduldig. Er warf seinen Mantel ab, die aufwendig gearbeitete Rüstung blinkte auf. Sein Berater reichte ihm Schild und Beil, ein weiterer Helfer zurrte den schimmernden Helm auf seinem Kopf fest. »Ich mache den Anfang und stelle die erste Aufgabe. Hiermit fordere ich den Mitbewerber zu einem Zweikampf heraus. Das erste Blut oder ein Niederschlag sollen entscheiden, wer sich die ersten Zähler verdient.«
Boïndil und Boëndal erschienen sogleich an Tungdils Seite und rüsteten ihn; sein Kettenhemd wirkte im Vergleich zu Gandogars strahlendem Harnisch farblos und billig. »Pass auf seinen Schild auf«, raunte ihm Ingrimmsch zu. »Gewiss nutzt er ihn als Ramme.« Er ballte die Fäuste. »Oh, könnte ich nur an deiner Stelle stehen. Ich würde den Vierten in den Marmor schlagen«, grollte er.
»Ihr wart gute Lehrer, sowohl auf unserer Wanderung als auch in den letzten Tagen«, dankte Tungdil den Zwillingen, während er den Kinnriemen zurechtrückte. »Wenn ich verliere, wird es nicht an euch liegen.«