»Mit Sicherheit nicht«, entfuhr es Goïmgar so leise, dass nur Tungdil es hören konnte.
»Nur für den Fall, dass wir die Tunnel verlassen müssen: War einer von euch beiden schon für eine längere Zeit an der Oberfläche und unter Menschen?«, wollte Tungdil von seinen Mitstreitern wissen, die sogleich verneinten. »Gut. Ich werde euch unterwegs noch ein paar Hinweise geben, auf was man im Gespräch und bei der Begegnung mit den Langen achten muss. Und nun ruht euch aus, morgen geht es los.«
Bavragor und Goïmgar erhoben sich, um sich in ihre Unterkünfte zu begeben.
»Und was machen wir?«, fragte Boëndal.
»Wir gehen auf Erkundigung.« Tungdil und die Zwillinge nahmen die Stufen, die sie tiefer in das Gebirge hinabführten. Sie begaben sich auf die Suche nach dem Eingang zu den alten Röhren, mit deren Hilfe die Kinder des Schmieds immense Strecken in wenigen Tagen zurücklegen konnten.
Boïndil und Boëndal staunten nicht schlecht, als sie unter der Führung Tungdils, der eine Abschrift der Karte mit sich trug, in Gebiete ihrer Heimat vorstießen, von denen sie bislang nichts gewusst hatten. Der Bereich des Blauen Gebirges war wegen der Schwefelgase seit hunderten von Zyklen nicht mehr betreten worden.
Die Luft roch modrig, abgestandener als in den Bereichen, in denen die Zwerge lebten, aber nicht nach Schwefel. Gelegentlich stießen sie auf Skelette von Schafen und Ziegen, die sich bei der Rückkehr in den Stall verlaufen hatten und qualvoll verdurstet waren.
Stunde um Stunde erklommen sie die Stufen. Auf breiten Steinbrücken ging es über tiefe Schluchten hinweg, auf deren Grund es geheimnisvoll dunkelgelb leuchtete; sie durchquerten pfeilergestützte Säle, die in ihren Ausdehnungen der Versammlungshalle in nichts nachstanden, und kamen an gewaltigen Wasserfällen vorbei. Sie wagten es nicht, sich zu unterhalten, sondern lauschten andächtig der Stille, die lediglich durch ihre Schritte und das Tosen der Kaskaden durchbrochen wurde. Bald marschierten sie nur noch bergauf.
»Diese Gänge waren all die Zyklen über vorhanden«, wunderte sich Ingrimmsch schließlich laut.
»So ist das mit Dingen, die nicht mehr benutzt werden«, sagte sein Bruder. »Man vergisst sie. Vermutlich sind die giftigen Dämpfe schon längst abgezogen.«
»Eben«, stimmte Tungdil ihm zu und wies nach vorn auf ein vier Schritt breites und drei Schritt hohes Portal, in das zwergische Runen in Gold eingegossen waren. »Ich glaube, wir sind da.«
Im Schein ihrer Öllampen befreiten sie die Schriftzeichen so gut es ging vom Schmutz der Jahrhunderte. Es war ein alter Dialekt, den die Erbauer des Tores gebraucht hatten, und Tungdil benötigte eine Weile, bis er den Sinn der Worte erfasste und sie vorlesen konnte:
»Reise, um zu Freunden zu gelangen, reise, um Feinde zu vernichten, reise mit Vraccas’ Segen und kehre sicher zurück.«
Sobald Tungdil verstummt war, schoben sich die Flügel knarrend auseinander und gaben den Weg für die drei Zwerge frei.
Sie gelangten in einen gigantischen Raum, in dem Tungdil und seine Begleiter einen Wald aus den unterschiedlichsten, mit Grünspan, Rost oder Patina bedeckten Zahnkränzen entdeckten, die horizontal und vertikal ineinander griffen; weitere Gestänge verbanden die Mechanik mit einer Reihe bauchiger Kessel; obendrauf saßen kleine und große Schlote, unten befanden sich Befeuerungsklappen.
Boëndals Blick schweifte aufmerksam durch den Saal. »Wir haben ein beinahe verlorenes Wissen wieder zum Leben erweckt.«
»Noch nicht ganz.« Tungdil schritt zu den bauchigen Kesseln, an denen kleine Glasröhrchen mit Bleikugeln darin angebracht waren. Das Glas wies Markierungen auf, auf dem Kessel standen die Runen für Wasser geschrieben. Er bückte sich, um in den Hohlraum darunter zu blicken, und bemerkte Aschereste. »Bavragor würde annehmen, dass es sich um eine Destille handelt«, lachte er und pochte gegen das Blech. »Aber ich würde sagen, es ist ein Antrieb.«
»Und wie soll der gehen, Gelehrter?«, erkundigte sich Boëndal, während Boïndil an ihnen vorbei auf die andere Seite der Wand aus Kesseln und Gestängen ging.
Tungdil erinnerte sich an ähnliche Zeichnungen, die er in Büchern aus Lot-Ionans Bibliothek überflogen hatte. »Wie bei einer Mühle, nur anders«, grinste er. »Die Zahnräder drehen sich und treiben so etwas an.«
»He«, erschallte Ingrimmschs Stimme. »Kommt mal her! Hier ist noch mehr.« Sie folgten ihm.
Mitten in der Halle verliefen acht breite, leicht abschüssige Eisenschienen, die geradewegs auf acht verschlossene Portale zuführten.
Am Ende von vier Trassen standen Holzbarrikaden, an denen die verfallenen Reste von Strohsäcken hingen.
»Darauf werden die Loren gesetzt«, mutmaßte Boëndal und erntete ein Nicken von Tungdil.
»Sicherer kann das Reisen nicht mehr sein. Man gleitet auf Schienen dahin.«
»Das wird Goïmgar beruhigen«, feixte Boëndal.
Tungdil schaute dorthin, wo Boïndil stand, ganz am anderen Ende der Halle. Dort lagerten etwa einhundert Loren. »Wir schauen sie uns an.«
Die Loren waren ganz unterschiedlich gebaut. In manchen waren zehn schmale Bänke hintereinander angebracht, andere hatten nur einen Sitz und dienten zum Transport von Fracht.
Am vorderen Ende eines jeden Karrens befand sich ein langer Griff. Tungdil rüttelte vorsichtig daran, und unter der Lore quietschte es. Er bückte sich, um nachzuschauen. »Bremsen«, verkündete er, »damit drosselt man unterwegs die Geschwindigkeit des Vehikels. Wenn man den Rost abschlägt, müsste es gehen.«
»Aber wie bekommen wir die Loren auf die Schienen, Gelehrter?« Boëndal blickte zu den schräg verlaufenden Startrampen, deren höchster Punkt sich zwei Schritte über dem Felsboden befand. »Von Hand hochhieven? Dazu sind sie zu schwer.«
»Nein, sieh nur«, meinte Tungdil und deutete zur Decke.
Eine Hebevorrichtung! »Das ist es! Mit den Krallen haben sie die Loren gepackt, angehoben und auf die Rampen gesetzt. Kommt, wir probieren einfach aus, was geschieht, wenn wir sie in Betrieb nehmen.«
Sie entdeckten Reste von Holzkohlebrocken, die sie mithilfe ihrer Öllampen zum Brennen brachten. Das notwendige Wasser, um wenigstens einen Kessel zu füllen, schöpften sie sich aus dem Becken eines Wasserfalls.
»Und jetzt?«, wollte Boïndil gespannt wissen.
»Warten wir ab«, erwiderte Tungdil.
Sie dösten eine Weile, um sich von den Anstrengungen der Arbeit auszuruhen. Ingrimmsch packte Tungdil plötzlich am Arm. »Da! Das Bleikügelchen in dem Rohr hat sich bewegt!«
Tungdil richtete sich auf. Und wirklich tanzte die graue Kugel inmitten des Röhrchens. Aus zwei Ventilen schoss heißer Wasserdampf.
»Was kommt als Nächstes?«, murmelte Boëndal neugierig.
Das Gestänge drehte sich langsam um die eigene Achse, woraufhin sich das Erste der unendlich vielen Zahnräder laut quietschend in Bewegung setzte, eine halbe Umdrehung schaffte und stehen blieb. Ein drittes Ventil öffnete sich. Laut zischend entwich Luft.
»Natürlich, es ist der Dampfdruck!«, verstand Tungdil und empfand Hochachtung vor den Ingenieuren der Zwerge, die sich die Konstruktion vor tausenden von Zyklen ausgedacht hatten. »Anstelle von Wasserkraft treibt der Dampf die Räder an!« Die Zwillinge schauten ihn verwirrt an. »Habt ihr noch niemals versucht, einen Deckel auf einem kochenden Topf festzuhalten?«
»Bin ich ein Koch?«, begehrte Boïndil auf.
»Ich begreife«, nickte sein Bruder. »Durch den Dampf drehen sich die Zahnräder. Damit kann man die Flaschenzüge bewegen und die Loren auf die Schiene setzen, ganz ohne Kraft.« Er betrachtete das Gewirr aus Stangen. »Der Dampfdruck eines Kessels wird wohl nicht ausreichen, die Vorrichtung anzutreiben.«
»Macht nichts«, sagte Tungdil. »Wir brechen sowieso erst morgen auf, und bis dahin …«
Ingrimmsch fuhr plötzlich herum und blickte misstrauisch zum Eingang. »Da war etwas«, knurrte er, und seine Kampfinstinkte erwachten.