Schaffen wir es wirklich? Auf was habe ich mich nur eingelassen?, dachte er, bis die Anstrengung des Marsches ihn übermannte und er so, wie er war, auf dem Bett einschlief.
Jemand rüttelte Tungdil unsanft aus seinen Träumen. Verschlafen richtete er sich auf und stöhnte, als er das Klopfen in seinem Schädel spürte. Ich dachte, das passiert bei Zwergenbier nicht.
»Sie sind fort!«, hörte er Balendilín rufen. »Hörst du, Tungdil?! Sie sind fort.«
Er öffnete die Augen. Der einarmige Berater stand vor seinem Bett, dahinter scharten sich die Zwillinge, Bavragor und Goïmgar, die ihre Kettenhemden trugen und abmarschbereit aussahen. »Unsinn, sie stehen doch hinter dir«, murmelte Tungdil mit schwerer Zunge.
»Nein, nicht die. Gandogar und seine Gruppe, sie sind fort«, sagte Balendilín, dieses Mal etwas schärfer und lauter. »Ihr müsst ihnen augenblicklich folgen, sonst wird der Vorsprung zu groß.«
Tungdil rutschte aus dem Bett. Sein Körper und sein Verstand fühlten sich keinesfalls ausgeruht genug, um sich auf eine Fahrt durch dunkle Röhren und Stollen einzulassen. »Sie werden lange brauchen, bis sie im Grauen Gebirge ankommen«, beruhigte er Balendilín. »Frag Schimmerbart, wie lange die Vierten bis hierher unterwegs waren.«
»Sie sind nicht zu Fuß unterwegs«, schaltete sich Boëndal ein. »Sie fehlen, bis auf Bislipur, und keiner weiß, wohin sie gegangen sind.«
»Jedenfalls nicht durchs Tor hinaus«, setzte Boïndil hinzu.
Die Erkenntnis traf Tungdil unvermittelt. Das war kein Tier, das wir da unten gesehen haben. Schlagartig war der Zwerg hellwach. »Swerd!« Es war Bislipurs Gnom gewesen, der ihnen gestern gefolgt war und sie bei den Loren belauscht hatte, ehe ihn Boïndil mit seinem Steinwurf verscheucht hatte. Damit weiß Gandogar genau, wo die Karren auf den Weg geschickt werden. Swerd war ihm allmählich ebenso unangenehm wie sein Herr.
Hastig zog Tungdil sein Lederwams an, warf sich das Ringgeflecht über, schlüpfte in die Lederhosen und Stiefel, um kurz darauf bereit zu sein, sich in das Abenteuer zu stürzen. In der Zwischenzeit ordnete er an, dass die Zwillinge Bavragor und Goïmgar zu dem vergessenen Teil des Zweiten Reichs führten und die Kessel anheizten.
»Die Loren müssen auf den Schienen sein, wenn ich zu euch stoße. Ich unterhalte mich inzwischen ein wenig mit Bislipur«, verkündete er und erbat sich Balendilín als Begleiter.
»Du hast Bavragor als Steinmetz ausgewählt, wie ich sehe«, sagte er unterwegs.
»Nein, das stimmt nicht ganz. Er hat sich ausgewählt, und ich habe ihm vorschnell mein Wort gegeben, ihn mitzunehmen«, seufzte Tungdil. »Ich kann mein Versprechen nicht brechen. Aber was hat es mit ihm auf sich, dass mir die anderen von ihm abraten? Ist sein Durst wirklich so gewaltig?«
Balendilín sog die Luft ein. »Er ist ein verbitterter Zwerg, wenn er nüchtern ist, und ein singender Spaßvogel, wenn er genug Bier bekommen hat. Seine großen Zeiten als Steinbildner sind vorüber.«
»Er ist nicht der Beste?«
»Doch, er ist der Beste. All die meisterlichen Arbeiten an den Festungsmauern, in den Hallen und Gängen preisen seine Kunst, doch er hat seit zehn Zyklen oder länger den Meißel nicht mehr angefasst, weil seine Hände wegen der ständigen Sauferei nicht immer das tun, was der Verstand von ihnen verlangt. Bis heute ist es keinem der Künstler gelungen, seine Werke zu übertrumpfen. So lange ist er der Beste, den die Clans der Zweiten haben.« Balendilín kniff die Lippen zusammen. »Ich wollte nicht, dass du ihn mitnimmst. Er ist wankelmütig, und keiner weiß, wie gut er wirklich noch ist. Aber das lässt sich wohl nicht mehr ändern.«
Sie fanden Gandogars Mentor in der Halle beim Frühstück, wo er mit mehreren Zwergen der Vierten zusammensaß und sich leise unterhielt. Seine Leute machten ihn auf die beiden Herannahenden aufmerksam.
»Ihr seid spät dran«, begrüßte Bislipur sie scheinbar überrascht. »Nur der frühe Schmied hat das Eisen rechtzeitig fertig.«
»Wir wären gern mit Gandogar aufgebrochen. Warum ist er schon losgezogen?«, stellte ihn Tungdil zur Rede und unterdrückte seinen Zorn. »Und woher wusste er, wo sich die Tunnel befinden?«
Die braunen Augen Bislipurs betrachteten ihn gleichgültig. »Wir haben Nachforschungen angestellt«, erklärte er leichthin. »Außerdem war kein gemeinsamer Zeitpunkt zum Aufbruch vereinbart. Mein König hat seine Gruppe zusammengestellt und ist losgezogen, um mit der Feuerklinge zurückzukehren.« Er rümpfte die Nase. »Er kann nichts dafür, dass du lieber einen über Durst trinkst und so lange in den Federn liegst. Du scheinst dich den Gewohnheiten von Hammerfaust anzupassen.«
»Ich nehme das Rennen zu den Clans der Ersten und um den besten Schmied sehr gern an. Sein Vorsprung ist nicht so groß, das kann ich leicht herausholen.«
Bislipur hob seinen Becher mit heißer Milch. »Nur zu, reise zu den Ersten. Meinen Segen hast du.« Die Zwerge an seinem Tisch lachten leise.
»Wo ist dein Gnom?«, fragte Balendilín scharf. »Spioniert er wieder in deinem Auftrag irgendwo herum? Heckt er eine Gemeinheit gegen Tungdil aus?«
Bislipur sprang auf die Beine und richtete seine breite Gestalt drohend auf. »Ich bin nicht ohne Ehre! Wenn du zwei Arme hättest, Balendilín Einarm, würde ich dich zu einem Zweikampf fordern«, grollte er.
»Das soll gern geschehen, wenn du im Wettlauf gegen mich antrittst«, konterte er ruhig. »Der Streit um den Thron des Großkönigs soll mit rechten Dingen zugehen, das ist alles, was ich von dir hören möchte.«
Bislipur stemmte die Hände in die Hüften. »Ich schwöre bei Vraccas, dass ich mich nicht einmischen werde. Aus genau diesem Grund bin ich in der Festung geblieben, denn alle sollen sehen, dass ich nicht eingreife.«
»Gilt das auch für deinen kleinen Helfer?«, hakte Balendilín nach.
»Natürlich«, erwiderte er herablassend. »So lange ich weiß, wo er steckt. Manches Mal büxt er einfach aus.«
Tungdil glaubte dem Zwerg kein Wort. Umso wichtiger wird es sein, die Augen unterwegs offen zu halten. Er verabschiedete sich brüsk und verließ den Saal, um zu den Loren zu eilen.
»Warum bist du wirklich hier geblieben?«, fragte Balendilín Bislipur leise.
Der Zwerg lachte grimmig. »Einen Grund habe ich dir genannt. Außerdem möchte ich verhindern, dass du allein das Schicksal unseres Volkes bestimmst, falls der Großkönig plötzlich sterben sollte. Jemand muss doch darauf achten, dass die Clans der Zweiten die Macht nicht an sich reißen, während der legitime Thronfolger auf Reisen ist.« Er senkte seinen Kopf. »Und damit meine ich nicht deine Marionette, Einarmiger. Dieser Zwerg ist kein Vierter.«
»Doch, er ist einer von euch. Du hast die Beweise dafür gesehen und vernommen«, beharrte Balendilín.
Bislipur kam noch einen Schritt näher. »Ich sage dir, wohin mein Gnom unterwegs ist«, raunte er ihm zu. »Es ist auf dem Weg in unser Reich, um Nachforschungen in unseren Archiven anzustellen und mit denen zu reden, die von dem Bastard wissen müssten.« Seine Augen nahmen einen harten, feindseligen Ausdruck an. »Die Geschichte Tungdils ist ungeheuerlich, eine Beleidigung unseres alten Königs, der niemals anderen Zwerginnen nachstahl. Swerd wird mit den Beweisen zurückkehren und Tungdil der Lüge, der Anmaßung und der Verunglimpfung überführen, das verspreche ich dir, Einarm. Und dann werde ich persönlich die Anklage gegen ihn führen. Der Traum des Schwindlers wird platzen wie ein Orkschädel unter meiner Axt, Freund Balendilín. Alle, die mit diesem falschen Spiel zu schaffen hatten, sind gleichfalls an der Reihe. Auch dies ist ein Schwur.«
Balendilín vernahm die drohenden Worte. Bislipur erschien ihm allzu sicher, die Täuschung aufzudecken. Sollte Tungdil zurückkehren, müsste er unter allen Umständen geschützt werden, bis Nôd’onn vernichtet war. Der Feldzug gegen das Böse hatte Vorrang vor allem anderen.