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»Aber trinken kann ich dabei nicht«, beschwerte sich Bavragor mit zusammengekniffenen Lidern und wischte sich den Branntwein aus den Augen. »Das hätte man besser machen können.«

Tungdil musste grinsen. Bei den Zwergen gefiel es ihm; trotz aller Widrigkeiten, die ihm bislang zugestoßen waren, wollte er das Zusammentreffen mit seinem Volk nicht missen, auch wenn es ihn erneut auf Wanderschaft schickte. Dieses Mal war er jedoch nicht allein, und das beruhigte ihn. »Ohne die verfluchte Zwietracht könnte es noch viel schöner sein«, sagte er leise.

»Was?«, schrie Boïndil. »Was hast du gesagt?« Der Thronanwärter winkte ab.

Mit einem Mal endete die Schussfahrt; der Karren beschleunigte nicht länger und nahm nun eine angenehme Reisegeschwindigkeit auf, die mal sanft nach oben führte und dann wieder leicht abschüssig wurde.

Ihr Gefährt rumpelte über zwei Abzweigungen hinweg, ohne von den Schienen zu springen.

»Ich hoffe, wir sind immer noch richtig, Gelehrter«, meldete sich Boëndal von hinten. »Hat jemand einen Wegweiser oder dergleichen gesehen?«

»Kurz vor jeder Weiche war immer ein Hebel«, rief Tungdil zurück. »Aber sie sahen beide zugestaubt aus und waren mit Flechten bewachsen. Es kann sie niemand verstellt haben.« Zumindest hoffte er, dass es sich so verhielt.

Der Tunnel wurde nun nicht mehr breiter, und die Aussicht gestaltete sich jetzt, wo die Zwerge endlich etwas erkennen konnten, als äußerst langweilig. Am sauber behauenen Stein wuchsen lediglich ein paar Flechten und Moose; zweimal durchbrach die Lore kleine Stalagmiten, die mitten auf der Trasse wuchsen.

»Das bedeutet doch, dass Gandogar hier nicht vorbeigekommen ist«, tat Bavragor seine Meinung kund, entkorkte seinen Lederschlauch und nutzte die niedrigere Geschwindigkeit, um ein paar Schlucke zu trinken, ehe die nächste Abfahrt anstand. »Hat er die Weichen vielleicht …«

»Nein, sie waren unverstellt«, beharrte Tungdil. Welchen Weg haben sie wohl genommen?, fragte er sich im Stillen.

»Und wenn sie die Loren von Hand umgehievt haben, damit wir nicht merken, dass sie eine Abkürzung genommen haben?«, schlug Ingrimmsch vor.

»Das wäre möglich«, stimmte Tungdil seinem Lösungsversuch zu, dachte dabei aber etwas ganz anderes. Sie könnten einen anderen Tunnel benutzt haben, um schneller zu den Ersten zu gelangen. Vielleicht gab es einen Plan, auf dem mehr als nur die Zugänge und die Ausstiege eingezeichnet waren. Schlimmstenfalls hatte es ihr Rivale geschafft, die Hebel geschickt zu verschieben und sie in die Irre zu lenken, während er selbst mit vollem Schub nach Westen rollte. Aber solche Gedanken behielt er besser für sich.

Ihr Karren schnurrte die Trasse entlang, als hätte er in den letzten einhundert Zyklen nichts anderes getan, bis sich der Tunnel plötzlich verbreiterte und sie in eine große Halle einfuhren, in die drei weitere Schienenwege mündeten. Die Lore rollte aus.

Steifbeinig sprang Tungdil hinaus. »Los, lasst uns nachsehen, wie es von hier aus weitergeht«, rief er und freute sich, dass er nach der langen Sitzerei ein wenig umherlaufen konnte.

Die Zwerge erkundeten die Halle, in der sie auf ähnliche Flaschenzüge und Dampfkessel wie im Reich der Zweiten stießen.

»Hier wurden die Karren sicherlich umgestellt«, überlegte Boëndal laut, schulterte seinen Krähenschnabel und ließ den Blick umherschweifen, damit sie von nichts, was unter der Erde lebte und kein Zwerg war, überrascht werden konnten.

»Ho, Schimmerbart!«, rief Boïndil plötzlich. »Was machst du da?«

Der Zwerg zuckte ertappt zusammen und wich von der Tafel zurück. Sie war so hoch und breit wie ein Gnom, aus hellem Granit gehauen und mit langen, inzwischen verrosteten Eisenstiften an der Wand befestigt. »Ich wollte … sie vom Staub befreien«, sagte er trotzig. »Um zu erkennen, was darauf geschrieben steht.«

»Es scheint ein Plan zu sein«, schätzte Tungdil, als er näher kam und einen Blick darauf werfen konnte. »Gut gemacht, Goïmgar! Du hast wache Augen.«

Tungdil hatte ihn absichtlich gelobt, obwohl er beobachtet hatte, dass Goïmgar die feinen Linien im Fels mit seinem Dolch hatte zerstören wollen, um sie unkenntlich zu machen und Gandogar einen Vorteil zu verschaffen. Da er dem Diamantschleifer aber nichts nachweisen konnte, behielt er seinen Verdacht für sich und zeichnete den Plan ab. Ich werde von nun an misstrauischer sein.

»Wir sind richtig«, meinte Bavragor freudig. »Ich sehe es ganz deutlich.«

»Sagt der Einäugige«, meinte Goïmgar abfällig und eine Spur zu laut, damit Hammerfaust es auch hörte.

Schnaubend fuhr der Steinmetz herum; seine breite Rechte zuckte nach vorn und packte den Vierten am krausen Bart, um ihn dicht an sich heranzuziehen.

»Komm nur her, du halber Zwerg, damit ich dir etwas erzähle«, grollte er. Die andere Hand hob die Augenklappe. Darunter verbarg sich ein vertrocknetes Überbleibsel des Auges, in dem deutlich erkennbar ein Steinsplitter steckte. »Eines Tages forderte der Fels, den ich bearbeitete, seinen Tribut. Als ich einen Brocken zu etwas Besonderem formte, sprang das nadeldünne Stück Granit ab und raubte mir das Augenlicht. Aber Vraccas segnete das andere und schenkte mir für den Verlust die zehnfache Sehschärfe auf dieser Seite. Die Zehnfache, hörst du?!« Er gab den schmächtigen Zwerg mit einem dunklen Lachen frei. »Ich erkenne die kleinste Unebenheit im Gestein, ich sehe die Poren deiner Haut, und ich erblicke die Furcht in deinen Augen, Schimmerbart. Was sagst du nun?«

Goïmgar wich hastig vor den prankengleichen Händen zurück und rieb sich das Kinn. Er hatte die Lippen vor Schreck fest aufeinander gepresst, doch jetzt löste sich die Wut, unwürdig behandelt worden zu sein, in einer Drohung. »Das wirst du noch bereuen, Hammerfaust! Wenn Gandogar erst Großkönig ist, denke ich mir etwas ganz Besonderes für dich aus.«

»So? Bist du zu deinem zarten Gemüt auch noch feige?«, höhnte Bavragor.

»Schluss! Ihr habt euch beide genug beleidigt«, rief Tungdil sie zur Ordnung. »Keiner von euch hat sich sonderlich freundlich verhalten, also lasst es gut sein. Keiner schuldet dem anderen etwas.« Die Worte Goïmgars zeigten ihm deutlich, welche Einstellung er gegenüber der Expedition hatte. »Es geht weiter.«

Er kehrte zur Lore zurück, und die anderen vier Zwerge folgten ihm schweigend. Die Spannung zwischen ihnen lag deutlich in der Luft, schlechter hätte die Ausgangslage für eine erfolgreiche Mission kaum sein können.

Ich hoffe, sie hören weiterhin auf mich, sonst mündet das Ganze noch in einer Katastrophe. Mit Schrecken erinnerte er sich, dass Bavragor und Ingrimmsch sich ebenso wenig mochten, wie Goïmgar den Steinmetz leiden konnte; nur der ruhige und besonnene Boëndal verstand sich mit allen gut. Noch, dachte Tungdil bedrückt. Vraccas, gib mir genügend Stärke. Ich bin es nicht gewohnt, ein Anführer zu sein.

Boïndil war auf der Suche nach möglichen Gegnern bis zum nächsten Portal gelaufen, öffnete es nun und schaute den Tunnel entlang. »Hier geht es wieder abwärts«, meldete er. »Wir müssen unseren Karren ein bisschen anschieben, den Rest besorgt das Gefälle.«

Mit vereinten Kräften hievten sie ihr Gefährt bis zu dem abfallenden Gleisstück und sprangen bis auf Boëndal, der für den letzten Anstoß sorgte, hinein. Der nächste Abschnitt ihrer Reise wartete auf sie. Das Vehikel trug sie weiter westwärts; quietschend und rumpelnd kamen sie dem Reich der Ersten näher.

Das Geborgene Land, Zauberreich Lios Nudin, im Spätherbst des 6234sten Sonnenzyklus

Die Späher kehrten von ihrem Erkundungsritt zurück und meldeten, dass die Hauptstadt Porista friedlich dalag, als fürchtete sie sich nicht vor den vierzigtausend Soldaten unter der Führung der besten Menschenkrieger des Geborgenen Landes, die von zwei Seiten auf sie zumarschierten.

Die Herbstsonne beschien die grünen Wiesen und die leuchtend bunten Blätter an den Bäumen und Sträuchern, die vor dem Einzug des Winters noch einmal zeigten, welche Schönheit sie besaßen.