Tilogorn und Lothaire empfingen ihre Aufklärer vor dem Versammlungszelt, das als Schutz gegen den empfindlich kühl gewordenen Wind aufgebaut worden war.
Der Bote, den sie vor etlichen Sonnenumläufen zu Nôd’onn nach Porista zu Verhandlungen geschickt hatten, war mit den unannehmbarsten Forderungen zurückgekehrt, und als er ihnen zudem die Nachricht über den Tod der Zauberer überbrachte, wussten sie, dass sie zuallererst den Magus vernichten mussten. Von ihm ging die größte Bedrohung aus.
Bei einem Becher heißem Tee betrachteten sie die Karte mit den Aufzeichnungen über die Verteidigungsanlagen der Stadt und wunderten sich, wie wenig Widerstand einem möglichen Angreifer geboten wurde. Ein einziger Wall schützte die Stadt vor unliebsamen Eroberern.
Tilogorn, in einen schlichten, aber schweren Panzer gehüllt, freute sich beim Anblick der leicht zu erstürmenden Mauern. Jedes kleine Dorf in Idoslân bot mehr gegen Angreifer auf als die Hauptstadt des Zauberreiches. »Es wird schnell gehen, wenn uns der Magus nicht mit seinen magischen Kräften zu stark zusetzt. Gut, dass wir ein erstes Heer zusammengezogen haben.«
»Es wird ausreichen, den wahnsinnigen Mörder zu vernichten. Er kann nicht an zwei Stellen gleichzeitig sein, eine Seite wird fallen und dann gehört er uns«, schätzte Lothaire und richtete seine leichte Lederrüstung.
Die Art der Rüstung spiegelte die Weise der Kriegsführung in den Reichen wider. Tilogorn stand in Idoslân den gerüsteten und äußerst robusten Orks gegenüber, daher wählte man dort einen guten Schutz gegen die Äxte und Beile, während Lothaire aus dem Land der Berge und Seen stammte. Ein schwerer Panzer bedeutete Unbeweglichkeit, hohes Gewicht und bei Fehltritten auf schmalen Bergpfaden den sicheren Tod.
Noch unterschiedlicher als die Herrscher präsentierte sich das Heer. Alle Königinnen und Könige hatten Kontingente nach Porista gesandt; den Befehl über die bunt zusammengewürfelten Truppen überließ man Tilogorn und Lothaire. Der Nachschub in Gestalt von nochmals vierzigtausend Streitern war auf dem Weg; mit ihm wollten sie in Dsôn Balsur einfallen.
So saßen die leicht gerüsteten und viel zu dünn gekleideten Krieger Umilantes neben den eigentlich für den Seekrieg ausgebildeten Kämpfern Weys IV. und den Waldstreitern Königin Isikas. Keiner der Soldaten hatte jemals eine Stadt stürmen müssen. Die leichte Kavallerie aus Tabaîn sowie die eigenen Kämpfer von Lothaire und Tilogorn bildeten das sichere Rückgrat, an dem sich die anderen orientierten und Halt gewannen.
Ich bin froh, dass wir den Scheusalen Tions noch nicht gegenüberstehen. Die Männer müssen sich erst einspielen. Der blonde Herrscher Urgons deutete auf die Stadttore. »Tilogorn, Ihr übernehmt das nördliche, ich stürme das südliche Tor. Die Leitern sind angefertigt und die Katapulte zusammengesetzt.« Er hob den Kopf. »Ich mache den Anfang, und Ihr haltet Eure zwanzigtausend Mann bereit. Sobald meine Meldeläufer Euch erreichen, rennt Ihr auf der anderen Seite gegen Nôd’onns Zuflucht an.«
»Dann soll es sein«, nickte Tilogorn und langte nach seinem Helm. »Befreien wir das Geborgene Land von dem ersten Übel, danach sind die Orks und Albae an der Reihe. Palandiell sei mit uns.«
»Sie wird es sein, daran gibt es keinen Zweifel.« Sie reichten sich die Hände, verließen die Unterkunft, saßen auf und ritten zu ihren Einheiten, die drei Meilen vor den Zugängen nach Porista Stellung bezogen hatten.
Auf ein Fanfarensignal hin erhob sich ein Fahnenmeer. Lothaires Abteilungen führten wie vereinbart die erste Attacke gegen das Südtor. Sie verbargen sich bei ihrem Sturm hinter dicken Holzwänden, die sie auf Räder montiert hatten, um eine fahrbare Schützung zu erhalten.
Als sie jedoch auf Schussweite heran waren, zeigte ihnen die Hauptstadt Lios Nudins die Krallen. Pfeilschwärme verdunkelten den Himmel, Geschosse sirrten durch die Luft und gingen auf die Truppen nieder.
Eilig kauerten sich die Infanteristen hinter die starken Bretter. Die Pfeile forderten nur geringe Opfer unter den Angreifern. Die eigenen Schützen erwiderten den Beschuss, und im Schutz der rollenden Wände ging es weiter vorwärts. Am Fuß der Mauern und vor dem Stadttor angelangt, wurden die Wände nach oben geklappt und mit Pfosten abgestützt, um den Männern an den Rammböcken als waagrechtes Dach gegen Steine und andere Geschosse von oben zu dienen; Sturmleitern wurden herangeschafft und angelegt.
Das war der Augenblick, in dem ihnen Nôd’onn eine erste Kostprobe seiner Macht gab.
Tilogorn saß ein Stück vom Kampfgeschehen entfernt auf seinem Pferd und beobachtete, wie sich die Fußtruppen an den Nordzugang heranpirschten. Die Gegenwehr auf ihrer Seite war schlicht zu vernachlässigen, man hatte Porista erfolgreich Glauben gemacht, dass der Hauptansturm aus der anderen Richtung erfolgte. Bis sich der zweite Angriff zu den Verteidigern im Süden herumspräche, wären die Portale längst geöffnet.
»Es wird nicht mehr lange dauern«, gab er eine leise Vorhersage ab, »dann liegt es in unserer Hand.« Mit einem Heer gegen Magie. Die Vorstellung behagte ihm nicht. Aber welchen Ausweg haben wir?
Er hatte sich selbst dazu bestimmt, die fünftausend Streiter umfassende Reiterei durch die Gassen der Stadt zu lenken und den Palast des Zauberers anzugreifen und im Handstreich zu erobern. Schnelligkeit und Überraschung zählten, wenn man lebend gegen diesen Magus vom Feld ziehen wollte.
Zwei einzelne Reiter näherten sich über Umwegen ihrem Standort, reckten die Fahnen und gaben das verabredete Signal.
»Möge uns Palandiell beistehen.« Tilogorn prüfte den Sitz seiner Waffen und probierte, ob er an Dolch und Kurzschwert schnell genug herankommen konnte; dann wies er die Fanfarenträger an, zum Angriff gegen das Tor zu blasen. Wie ein Ameisenheer stürmte die erste Welle aus achttausend Mann gegen den Zugang an, die Strategie war die gleiche, wie sie Lothaire keine zwei Meilen von ihnen entfernt einsetzte.
Den Angreifern schlug nur wenig Widerstand entgegen. Vereinzelt kamen die Pfeile hinter den Zinnen hervorgeschossen, und so hatten sie kaum Opfer zu beklagen.
In Windeseile lagen die Leitern an den Mauern. Kurz darauf standen die ersten Krieger auf den Wällen und befanden sich im Nahkampf mit der Hand voll Tapferer, die zur Verteidigung des nördlichen Zugangs abgestellt worden waren.
Er schaute zur Mauerkrone, auf der soeben die Flagge Idoslâns emporgezogen wurde, und setzte den Helm auf. Kraftvoll klappte er das Visier herab. »Für das Geborgene Land!«, rief er und preschte zusammen mit den fünftausend Berittenen auf das sich öffnende Stadttor zu.
Der oberste Stein der Zinne löste sich wie von selbst aus dem Mörtelbett und schoss wie von einem Katapult abgefeuert auf die Angreifer nieder. Der Quader mit der Kantenlänge eines Unterarms traf den Brustkorb eines Soldaten und quetschte ihn zusammen, als wäre er nachgiebig wie ein Bienennest.
Das stellte den Auftakt zu einem grausamen Hagel dar, wie ihn keiner der Kämpfer jemals erlebt hatte und die meisten von ihnen nie mehr erleben würden.
Die Stadtmauer Poristas löste sich Stein für Stein auf. Von oben nach unten schnellten die Quader von ihren Plätzen und krachten mit solcher Wucht in die Reihen der Angreifer, dass sämtliche Schutzvorrichtungen versagten. Die rollenden Wände wurden durchschlagen, umgeworfen oder vollkommen zertrümmert, während die Truppen dahinter im Splitterregen standen und schreckliche Verletzungen erlitten.
Jeder der Steine traf sein Ziel. Das Geräusch der dumpfen Einschläge, das Krachen der Knochen und Scheppern der Rüstungen wollte nicht mehr enden; aus den Schreckensrufen wurden Hilfeschreie und Todesgebrüll. Die wenigen Sturmleitern, die noch standen, kippten, weil es nichts mehr zum Anlehnen gab.
»Zurück!«, befahl Lothaire und wendete sein Pferd. Da traf ein Quader den Kopf des Hengstes, der augenblicklich zusammenbrach und zuckend verendete.
Der Prinz stürzte schwer zu Boden und brauchte lange Zeit, bis er sich unter dem Leib des Tieres hervorgeschoben hatte. Sein Bein fühlte sich gebrochen an, an ein Auftreten war nicht zu denken. Zwei seiner Soldaten erkannten die Lage und eilten ihrem Herrscher zu Hilfe, um ihn in einen Graben neben dem Weg zur Stadt zu legen. Das war der sicherste Ort, so lange die behauenen Felsbrocken umherflogen.