Er wollte noch etwas sagen, aber ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Blut sickerte aus der Nase und dem Mundwinkel, keuchend brach er auf die Knie, und noch mehr Blut rann in dicken Fäden zwischen den Lippen hervor und besudelte die makellos weißen Bodenplatten.
»Jetzt oder niemals mehr!«, schrie Tilogorn und rannte los. »Für das Geborgene Land!« Seine Krieger folgten ihm.
Die Mehrheit der Mutigen zerfiel zu Staub, doch an manchen Stellen wurde die Wirkung des Zaubers durch Nôd’onns Schwäche gemildert. Dreißig Kriegern gelang es, darunter auch dem König, die Sperre zu durchbrechen und nahe an den Magus heranzukommen. Ein Bogenschütze jagte drei, vier Pfeile in den aufgedunsenen Körper, dann waren die Soldaten heran und hackten auf den ermatteten Magus ein. Plötzlich war auch Prinz Mallen an seiner Seite.
Die Angst, im letzten Moment doch noch Opfer eines Zaubers zu werden, verlieh den Männern berserkerhafte Kräfte. Die Klingen stachen und schlugen immer schneller, immer fester zu. Der Stein färbte sich rot vom Blut, das in Strömen aus dem zerstückelten Leib rann. Es stank bestialisch.
Tilogorn meinte, eine Bewegung in den klaffenden Wunden gesehen zu haben. Etwas lebt in ihm, durchzuckte es ihn voller Abscheu. Voller Härte drosch er zu. »Stirb endlich!«
»Nein!«, schrie Nôd’onn. Ein Windstoß trieb die Angreifer zurück und hob sie von den Beinen. »Ich muss das Geborgene Land schützen!« Der Onyx seines Zauberstabs spie ein Geflecht aus schwarzen Blitzen. Etliche Männer vergingen in den Energien samt ihren Rüstungen zu Asche.
»Gebt nicht auf!« Der König sprang nach vorn und holte mit seinem Schwert aus. »Wir müssen das Unmögliche schaffen«, rief er atemlos und reckte seine Rechte gegen den Magus. »Ich …«
Ein Blitz sirrte heran und wühlte sich durch das Leder bis zu seinem Herzen vor. Stöhnend sank Tilogorn nieder, die Finger lösten sich vom Griff des Schwertes, es verschwand im Gewirr aus Beinen und Schuhen. Versagt …
»Meinen Glückwunsch, Prinz Mallen«, sagte Nôd’onn höhnisch. »Ihr wurdet soeben ein König und seid der neue Herrscher über Idoslân.« Wieder reckte er die Hand. »Ich frage Euch: Wollt Ihr mir folgen oder Tilogorn und Eure Herrschaft so schnell verlieren, wie Ihr sie erhalten habt?«
Der Ido überlegte nicht lange; er bückte sich, hob das Schwert auf und zog den Schwerverletzten auf die Beine. »Ich bringe Euch von hier weg, heute ist nicht der Zeitpunkt, um ihn zu besiegen«, sagte er zu Tilogorn und schleppte ihn zum Ausgang. Die Soldaten gaben ihnen Schutz.
Nôd’onn schaute ihm fassungslos hinterher. »Auch Ihr?«
»Ihr seid das Böse, der Feind Idoslâns. Wie könnte ich mit Euch einen Pakt eingehen?« Mallen stützte Tilogorn und humpelte die Stufen hinab, doch Nôd’onn folgte ihnen mit großen Schritten.
»Dann sterbt gemeinsam!«, schrie er mit überschnappender Stimme. »Ich brauche weder den einen noch den anderen von Euch!«
Als sich die ersten Blitze knisternd durch die Reihen der letzten Krieger fraßen, warf sich Mallen Tilogorn über die Schulter und rannte die Treppen hinab. »Ich weiß nicht, ob wir beide es schaffen, aber ich werde Euch sicherlich nicht diesem Wesen überlassen«, keuchte er unterwegs.
»Mallen, regiert Idoslân besser als Euere Vorfahren«, raunte der König sterbend. Blut floss aus seinem Mund und rann über die gerüstete Schulter seines Trägers. »Hört zu: Sammelt den Nachschub in sicherer Entfernung zu Porista, rettet die Verwundeten und verbrennt die Leichname – oder Ihr habt ein Heer aus Untoten gegen Euch, dem nichts und niemand mehr gewachsen ist. Ihr dürft Nôd’onn niemals sein unschlagbares Heer geben!«
»Ihr werdet leben und mir dabei helfen, die Vergeltung vorzubereiten. Ihr habt mehr Erfahrung, Tilogorn«, widersprach der Prinz angestrengt; das zusätzliche Gewicht drückte schwer auf seine Beine. »Reißt Euch zusammen, Mann! Wollt Ihr einem Ido den Thron Eures Landes überlassen?«, schürte er die Wut des Königs, um ihn am Leben zu halten.
»Versprecht es! Seid weiser als Euer Großvater! Reißt das Land nicht in Stücke.«
»Ich verspreche es.«
»Verbrennt die Toten«, schärfte er ihm noch einmal leise ein, »rettet unsere Heimat. Palandiell sei …« Sein Körper erschlaffte.
Nein! So wollte ich den Thron niemals. Mallen kam am Fuß des Turmes an und legte den Toten sanft auf die Erde. Aber ich werde mein Versprechen halten, Tilogorn. Er nahm sich den Siegelring, die Spange und das Schwert des Herrschers und lief weiter.
Er und seine restlichen Leute bahnten sich mit knapper Not einen Weg durch die Horde von Untoten.
Auf dem Rückzug steckten sie Porista in Brand und schufen ein Flammenmeer, das keine Magie der Welt zum Verlöschen brachte. Selbst der von Nôd’onn beschworene Regen konnte nicht mehr verhindern, dass die Stadt bis auf die Grundmauern und den Palast des Zauberers niederbrannte. In diesem Inferno endeten auch König Tilogorn und König Lothaire.
XIII
Inzwischen konnten die fünf Zwerge vage bestimmen, wie weit sie von ihrem Ziel entfernt waren. Alle fünfundzwanzig Meilen war eine entsprechende Markierung in den Fels gehauen, die sie zunächst nicht entdeckt hatten. Binnen kurzem legten sie die Strecke von unglaublichen zweihundert Meilen zurück.
Als sie vor der nächsten Schwungstelle ausrollten und in einer größeren Halle zum Stehen kamen, beschlossen sie, sich hier für ein paar Stunden auszuruhen. Sie hatten zwar keinen anstrengenden Marsch unternommen, aber das unbequeme Sitzen, die Kurven und das Auf und Ab hatten ihre Muskeln verspannt, und auch das eintönige Rattern der Lore hatte sie ermüdet.
Boïndil kletterte auf den Rand ihres Gefährts und hielt von dort sorgfältig nach Fußspuren in der Dreckschicht des Bodens Ausschau, ehe sie ausstiegen. »Hier war schon lange niemand mehr«, verkündete er und sprang auf den Boden, dass Staub aufwirbelte. »Oder sie sind alle zerfallen.«
»Die Gleise vor uns sind ebenfalls schmutzig. Gandogar muss einen anderen Weg genommen haben«, schloss sein Bruder aus seiner Beobachtung.
Tungdil entfaltete die Skizze des Tunnelsystems, die er bei ihrem letzten Halt angefertigt hatte. »Es wäre möglich«, schätzte er.
»Hoffentlich bricht die Decke über ihm ein«, grummelte Ingrimmsch und sammelte Holzreste, um damit ein Feuer zu machen; doch kaum berührten seine Finger die Balkenstücke, zerfielen sie zu Sägemehl und kleinen Brocken. Aus den gerösteten Pilzscheiben mit geschmolzenem Käse wurde nichts.
Sie nahmen schweigend ihr Mahl ein, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Bavragor trank ordentlich und stimmte seine Gesänge an, ohne sich um die Einwände seiner Begleiter zu scheren. Seine kräftige Stimme hallte durch den Raum und pflanzte sich durch die Röhren fort.
»Sei endlich still! Sonst weiß jedes Lebewesen unter der Erde, dass ein paar Zwerge hier sind«, beschwerte sich Goïmgar.
»Bei dem Gegröle, das er unterwegs von sich gab, dürfte es längst bekannt sein«, grinste Boëndal.
»Unser kleiner Schimmerbart hat wieder Angst, was?!«, stichelte Boïndil, während er seine Beile in den Schoß legte und die Schneiden mit einem Schleifstein bearbeitete. »Keine Sorge, mein Bruder und ich sind bei dir.« Prüfend fuhr er mit dem Daumen über die Klinge. »Sie hat schon lange kein Orkblut mehr getrunken. Sie ist ebenso ungeduldig wie ich.«
»Glaubst du denn, es gibt hier unten welche?«, fragte Goïmgar bange.
»Alles kann in diesen Stollen leben«, erwiderte er mit irrem Blick. Boëndal und Tungdil verstanden sogleich, dass er sich einen Scherz mit dem Diamantenschleifer erlaubte, um ihn noch mehr zu erschrecken. »Hunderte von Zyklen waren sie ungenutzt. Vielleicht treffen wir auf Bestien, die es sich hier unten gemütlich gemacht haben.« Er schlug die Beile mit den flachen Seiten gegeneinander, dass es laut klirrte. »Ho, wir müssen ihnen den Krieg erklären und sie hinauswerfen.«