Bavragor reckte den Kopf. Seine Kiefer mahlten, und eine einzelne Träne sickerte unter der Augenklappe hervor. Sprechen konnte er nicht, stattdessen hob er den Schlauch erneut an die Lippen.
»Willst du dich wegen ihr zu Tode trinken?«
Er setzte ab. »Nein. Ich trinke, damit ich vergesse, wie gut ich einmal gewesen bin«, antwortete er traurig. »Aber es gelingt mir nicht. Meine Werke hängen in jeder Ecke des Zweiten Reichs, schauen auf mich herab und verhöhnen meine untauglich gewordenen Hände.« Er lehnte sich an die Felswand und betrachtete die Halle, in der sie sich befanden. »Weißt du, warum ich auf diese Expedition mitgekommen bin?«, fragte er unvermittelt, und Tungdil schüttelte den Kopf. »Um nicht zurückzukehren«, erklärte er heiser und mit der Ernsthaftigkeit eines Betrunkenen. »Ich ertrage die mitleidigen Blicke der Zwerge nicht länger. Ich möchte als Bavragor Hammerfaust in Erinnerung bleiben, als ungeschlagener Meister des Steins, der die Feuerklinge zum Leben erweckt hat und sein Leben für die Zwergen gab – und nicht als der Säufer Hammerfaust, dem der Meißel in der Hand so zittert, dass er Felsen graviert, ohne es zu wollen.« Er schaute Tungdil an und lächelte schwach. »Ich werde meinen Beitrag leisten, um das Geborgene Land und unser Volk zu schützen, aber ich bleibe im Reich der Fünften.« Zur Bekräftigung trank er einen weiteren Schluck Branntwein und schwieg dann.
Seine Worte machten Tungdil betroffen. Er hatte ihn anders eingeschätzt, als lauten, gelegentlich unflätigen, aber gutmütigen Zwerg, den nichts so leicht aus der Bahn warf. »Nein. Du wirst sicher mit uns zurückkehren«, erwiderte er und fand seine Äußerung nach dem ehrlichen Geständnis armselig. »Wir brauchen deine harten Fäuste gegen die Truppen Nôd’onns!«
Bavragor legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Du brauchst Zwerge wie die Zwillinge, die kämpfen können und denen Selbstzweifel fremd sind.« Er ließ ihn los. »Sei unbesorgt. Meine Beherrschung wird ausreichen, die schönsten und besten Widerhaken aus Granit zu formen, die das Zwergenreich jemals gesehen hat. Und nun lass mich mit meinem Schlauch allein. Ich erzähle dir ein anderes Mal, was mit meiner Schwester geschah.«
Tungdil erhob sich und ging zu den Kriegern, die sich Schinken und Käse gönnten. Traurig.
Boëndal hatte die Unterhaltung aus der Entfernung mitverfolgt, ohne zu verstehen, über was sie sprachen, fragte aber nicht nach, um seinen Bruder nicht aufmerksam werden zu lassen. Er reichte Tungdil ein Stück von dem würzigen Ziegenkäse. »Wenn uns die Trasse nicht im Stich lässt, sind wir übermorgen schon bei den Ersten, Gelehrter«, sagte er.
»Gandogar müsste demnach bereits dort sein«, meinte Tungdil missmutig.
»Wenn er sich nicht verfahren hat«, lachte Ingrimmsch und wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Ich hoffe, dass ihn seine Abkürzung geradewegs in ein tiefes Loch führte.« Goïmgar warf ihm einen bösen Blick zu. »Ja, schau mich ruhig an. Da sitzt der Herrscher über alle Zwerge«, nahm er die unausgesprochene Herausforderung gereizt an. »Dein König aber ist ein Kriegstreiber, ein Weichzwerg, der …«
»Genug, Boïndil«, rief ihn Tungdil zur Ordnung. »Ich weiß, dass du lieber kämpfst als herumsitzt, aber du wirst dein Temperament zügeln müssen.« Brummelnd verstummte der Zwerg. »Weiter. Je eher wir unsere erste Etappe erreichen, umso besser.« Er erhob sich. Die anderen vier verstanden es als Zeichen, auf die harten Sitze der Lore zurückzukehren. Wird jemals Ruhe in die Gruppe einkehren?, fragte Tungdil sich besorgt.
»Wie es wohl bei ihnen aussieht?«, überlegte Boëndal halblaut, während er sich bereithielt, das Vehikel anzuschieben. »Es sollen die besten Schmiede unseres Volkes sein. Ich lasse mir von ihnen eine neue Waffe anfertigen, die noch besser als mein Krähenschnabel ist.«
»Ho! Das ist ein guter Gedanke, Bruderherz«, rief Ingrimmsch. »Nicht, dass meine beiden Beile schlecht wären, aber wenn die Clans der Ersten Besseres bieten, lange ich gern zu.«
Langsam rollten sie los. Als die Abwärtsstrecke näher rückte, sprang Boëndal auf seinen Platz, und die Reise ging weiter.
»Ich bin deiner Einladung gefolgt, Gundrabur, aber rechne nicht damit, dass du meine Meinung ändern wirst«, sagte Bislipur und erhob sich wieder, nachdem er vor dem Großkönig niedergekniet war.
Der Tonfall seiner Stimme verriet Starrsinnigkeit und Ablehnung und verdeutlichte dem Oberhaupt aller Zwergenstämme und seinem Berater, dass sie sich die einsame Unterredung in der leeren Ratshalle hätten sparen können. Aber vielleicht ließ Vraccas ja ein Wunder geschehen und schlug ihm mit seinem Hammer unerwartet Einsicht in den Schädel. Gundrabur deutete auf den Sessel, auf den sich der kräftige Zwerg niederlassen durfte.
Er sieht merklich schlechter aus. Seine Finger zittern, den Arm kann er nicht mehr richtig heben, bemerkte Bislipur voller Zufriedenheit. Sein Alter ist auf meiner Seite.
»Wir wählen den Weg, den wir von Anfang an hätten einschlagen sollen, anstatt Intrigen zu spinnen«, begann Balendilín und setzte sich neben seinen Herrn. »Es ist nicht unsere Art, Meinungsverschiedenheiten wie unehrliche Kobolde zu lösen, oder, Bislipur?«
»Intrige ist sicherlich das falsche Wort dafür. Ich suche mir Verbündete, um das Ziel zu erreichen, das sich unserem Volk in einer einmaligen Lage bietet«, hielt er dagegen.
»Der Großkönig und ich fragen uns, was dein wahrer Antrieb ist«, gab Balendilín offen zu. »Wir verstehen nicht, dass du die Kinder des Schmieds in einen Krieg gegen die Elben führen willst, wenn eine weit größere Schlacht ruft.«
Bislipur wirkte gelangweilt, er ärgerte sich nicht einmal mehr. »Großkönig, lass mich gehen. Ich verstehe euer Anliegen ebenso wenig wie ihr meins, und von daher gibt es keinerlei Grundlage für eine Unterhaltung. Sie ist reine Zeitverschwendung.«
»Zeit, die du wofür benötigst?«, hakte Balendilín ein.
»Zum Nachdenken«, antwortete Bislipur mürrisch. Ohne die Erlaubnis abzuwarten stand er auf und humpelte zur Tür.
»Nachdenken möchtest du?«, sagte Gundrabur. »Nun, dann denke über Folgendes nach: Niemand aus deiner Gesandtschaft kennt deine Familie, Bislipur.«
Der Zwerg blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. »Was willst du damit andeuten, Großkönig?«
»Ich möchte nichts andeuten, ich weise dich auf etwas hin«, erwiderte Gundrabur.
Balendilín sprang für seinen geschwächten Herrn ein. »Du zweifelst Tungdils Herkunft an, einverstanden. Aber ein altes Sprichwort sagt: Wer nach anderen mit Feuer wirft, sollte sich vergewissern, dass er die Hitze nicht selbst fürchten muss.«
Bislipur kehrte an seinen Platz zurück, die breiten Hände zu Fäusten geballt. »Es scheint mir, als spinntet ihr beide eine Intrige, wie es die Kobolde nicht besser könnten«, grollte er. »Was führt ihr im Schilde?«
»Nichts. Aber wir würden unsere Zweifel laut anklingen lassen, dass mit deiner Herkunft ebenso etwas im Argen liegt wie mit der unseres favorisierten Nachfolgers«, sagte der Berater ernst. »Und die Zeilen über die Schuld der Elben am Untergang der Fünften sind eine Fälschung.«
»Verleumdung!« Bislipur schlug mit beiden Händen auf den Tisch, dass der Stein knackte.
»Sieh dich an. Deine Statur ist breiter als die der Zwerge aus dem Stamm der Vierten, niemand sah dich jemals einen Edelstein schleifen oder an Schmuck arbeiten, und deine Kampfkraft sowie deine Stärke sind bei den Orks gefürchtet«, hielt Balendilín kalt dagegen. »Das habe ich erfahren, als ich mich ein wenig umhörte. Deine Feinde könnten annehmen, du seist einer aus dem Stamm Lorimburs.«
»Du wagst es, mir diese Schmähung ins Gesicht zu sagen?! Bei meinem Bart, ich würde dich augenblicklich zu einem Zweikampf um meine Ehre fordern, wenn du nicht ein Krüppel wärst!«
Balendilín jubelte innerlich. Ich habe ihn mit meinen frei erfundenen Worten tatsächlich getroffen! »Wir schlagen dir einen Handel vor. Du verhältst dich still, bis eine der beiden Gruppen aus dem Grauen Gebirge zurückkehrt, und verkündest, dass die Schuld der Elben am Untergang der Fünften nicht erwiesen ist und die Zeilen gefälscht wurden, von wem auch immer. Wir versprechen hingegen, dass wir das Gerücht über deine zweifelhafte Herkunft nicht verbreiten werden.«