»Du meinst, sie sind vielleicht immer noch hier und lauern zwischen den Bäumen?«, hoffte Boïndil, was Goïmgar dazu brachte, ein paar Schritte von dem Kadaver zurückzuweichen und prompt zu stürzen.
Rücklings verschwand er im Nebel, um kurz darauf schreiend wieder aufzutauchen und sich zu den anderen zu flüchten. Seine Hände waren voller Blut. »Da liegt noch eins«, rief er angewidert. »Gib mir sofort meinen Schild zurück!«
Ingrimmsch trat an die Stelle, wo der Vierte gefallen war, und verwirbelte die weißen Schwaden; ein leichter Wind wehte durch den Wald und half dem Zwerg, den Dunst zu verjagen.
Ihnen stockte der Atem, als sie das Ungeheuerliche erblickten. Ein Dutzend Einhörner und die dreifache Menge Orks ruhten tot auf der Erde. Die Bestien waren den Tritten und Hörnern der Vierbeiner zum Opfer gefallen; die Einhörner aber waren von klaffenden Wunden gezeichnet und mit langen Pfeilen gespickt.
Die Zwerge erkannten im schwindenden Nebel schemenhaft Barrikaden aus Baumstämmen, die den Kreaturen des Lichts zum Verhängnis geworden waren.
»Sie haben eine Treibjagd auf die Einhörner veranstaltet«, sagte Bavragor erschüttert. »Wie viele gibt es von ihnen, sagtest du?«, fragte er Tungdil.
»Etwas mehr als ein Dutzend«, antwortete er nicht minder entsetzt. Selbst jetzt, da die Einhörner tot waren, konnte er erahnen, welche Friedfertigkeit, welche Würde und Freundlichkeit von ihnen ausging, ehe sie von den niedersten Kreaturen ausgelöscht wurden. »Es sind alle, die es im Geborgenen Land noch gab.«
»Es steht schlimm um unsere Heimat«, bemerkte Boëndal traurig. »Auf, rasch in die Stadt, ein Pony besorgt und weitergeritten. Je eher wir den Kampf gegen Nôd’onn aufnehmen, desto mehr Leben können wir retten.« Sie rissen sich zusammen, kletterten über die Palisaden und setzten ihren Weg durch den Wald fort.
Hat das Sterben niemals mehr ein Ende? Tungdils Schmerz über den Verlust Lot-Ionans, Fralas und ihrer Töchter erhielt neue Nahrung.
Boïndil hielt seine Beile kampfbereit, weil er nach wie vor wünschte, dass ihm ein Ork vor die Schneiden lief, an dem er seine angestaute Wut ablassen durfte. Plötzlich nahmen seine Augen einen neuen Ausdruck an, und ein Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Sein Bruder fragte nicht, sondern nahm den Krähenschnabel in die Hände.
»Ich rieche sie«, wisperte Ingrimmsch erregt. »Oink, oink, oink!«
Es dauerte nicht lange, da roch Tungdil das ranzige Fett ihrer Rüstungen; es passte so gar nicht zu dem angenehmen Geruch nach frischem Moos, feuchter Erde und würzigen Tannennadeln. »Los, wir müssen die Stadt erreichen.«
»Unsinn, wir müssen die Schädel der Biester spalten!«, widersprach Boïndil offen. Das lange unterdrückte Kampffieber hatte Besitz von ihm ergriffen, sein heißes Blut leitete ihn. »Wo seid ihr, ihr kleinen Schweinchen? Kommt, euer Metzger wartet!«, rief er, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lang gezogenes Grunzen aus.
Von irgendwo zwischen den dichten Stämmen wurde das Gegrunze erwidert.
Goïmgar machte sich hinter seinem Schild so schmal, dass er vollständig dahinter verschwand. »Sei still, du Irrer!«, verlangte er furchtsam. »Sie …«
Das Klimpern und Scheppern von Rüstungen näherte sich ihnen. Ingrimmsch schloss genießerisch die Augen. »Sie sind gerade über den Pferch gesprungen«, übersetzte er für die anderen die Geräusche. »Es müssen …«, er lauschte kurz, »zwanzig oder mehr Gegner sein.« Seine Hände schwangen ungeduldig die Beile. »Sie haben uns bemerkt, jetzt traben sie an.«
Unvermittelt riss er die Lider auf und preschte »Oink, oink, oink« rufend los. Boëndal warf Tungdil einen entschuldigenden Blick zu und folgte ihm. Es dauerte nicht lange, dann traf Stahl auf Stahl, laut tönte das Klirren durch den Forst.
Ich kann es einfach nicht glauben! Seine Lebensesse wird ihm eines Tages den Verstand aus dem Kopf brennen. Tungdil fühlte sich überfordert.
»Wollen wir sie allein kämpfen lassen?«, fragte Bavragor ungläubig und zückte seinen Kriegshammer.
»Ja«, meinte Goïmgar eingeschüchtert. »Sie haben damit angefangen, sie sollen sehen, wie sie damit fertig werden.«
»Nein. Wir helfen ihnen, und dann nichts wie hinter die Stadtmauern«, ordnete Tungdil an, der schon längst seine Axt in den Händen hielt.
Die drei eilten den Zwillingen zu Hilfe. Der Steinmetz stürmte vorweg und warf sich brüllend auf den ersten Ork, der ihm unterkam. Die Scheusale, die gerade versuchten, die Krieger zu umzingeln, wurden von dem unerwarteten Auftauchen der zusätzlichen Zwerge überrascht. Entsprechend schlecht fiel ihre Gegenwehr aus.
Bald lagen zwei Dutzend Orks erschlagen auf dem Waldboden, wobei sich Goïmgar darauf beschränkt hatte, hinter Bavragor zu bleiben und jede Art von Aufeinandertreffen mit einer Grünhaut zu vermeiden.
Das meiste der blutigen Arbeit hatte Ingrimmsch verrichtet, doch auch Boëndal und Hammerfaust hatten so besonnen gekämpft, dass Tungdil beinahe gar nicht zum Zug gekommen war.
»Die werden keine Einhörner mehr umbringen«, lachte Boïndil, während er sich mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn wischte. »Ha, ihr Schweinchen!« Er trat nach einem Toten. »Den Tritt gebe ich dir noch dazu. Nimm ihn mit und bringe ihn Tion, wenn du ihn im Jenseits siehst.«
»He! Hört ihr? Da sind noch welche«, rief Goïmgar ängstlich und nahm seinen Schild hoch, bis man nur noch die Augen von ihm sah.
Ingrimmsch rempelte seinem Bruder in die Seite. »Schau, er sieht aus wie ein Schild mit zwei Füßen dran«, witzelte er und wandte sich den neuen Angreifern zu. »Heute ist mein Glückstag. Das ist echtes Gold wert«, grinste er. Wieder lauschte er nach den Geräuschen, welche die Orks verursachten, damit er ihre ungefähre Zahl einschätzen konnte. »Eins, zwei, drei …«, er wurde langsamer und nachdenklicher, die eben noch sorglose Miene veränderte sich, »vier, fünf … Eins, zwei …« Er riss die Augen auf und senkte trotzig den Kopf. »Das wird eine Herausforderung, wie sie Zwergen würdig ist.«
Schon hörten sie das Rasseln der Rüstungen.
»Wie viele denn?«, wollte Tungdil beunruhigt wissen. Wenn Ingrimmsch von einer »Herausforderung« sprach, konnten es nicht wenige sein.
»Fünf und zwei«, gab der Zwerg lakonisch zurück. »Sie kommen in erster Linie von vorn, aber auch über die rechte Flanke.«
»Sieben?«, atmete Goïmgar auf und wuchs hinter seiner Deckung wieder ein wenig.
»Fünf Dutzend und zwei Reiter«, übersetzte Boëndal die Zählart.
Tungdil packte Ingrimmsch an der Schulter. »Das ist keine Herausforderung, das ist Wahnsinn. Wir laufen auf der Stelle zu der Stadt«, befahl er. Der Gemmenschneider wandte sich auf dem Absatz herum und lief los.
»Nein!«
»Dieses Mal wirst du gehorchen! Du hattest dein Vergnügen, Boïndil. Denk an unsere Aufgabe!«
Missgelaunt wandte sich der Krieger um. »Na, schön. Da haben die Schweinchen einmal mehr Glück als Verstand gehabt«, gab er nach. »Aber wenn sie uns einholen, werden sie sehen, was sie davon haben.« Sein Zeigefinger reckte sich Bavragor entgegen. »Und du lass deinen Hammer von meinen Gegnern, Einauge. Wenn ich deine Unterstützung brauche, lasse ich es dich wissen.«
»Ich habe nicht dir geholfen, ich stand deinem Bruder bei. Zu gern hätte ich gesehen, wenn ein Ork deinen Zopf und deinen Nacken mit dem Schwert frisiert hätte«, erklärte er gehässig.
»Nicht jetzt! Kommt!«, mahnte Tungdil sie und setzte sich in Bewegung.
Sie rannten an den Bäumen vorbei, brachen Äste und Zweige ab und hetzten vorwärts, um der Rotte zu entgehen, die sich an ihre Fersen heftete. Goïmgar war zwischen den Stämmen schon nicht mehr zu sehen.
Signalhörner erschallten in ihrem Rücken. Die Orks organisierten die Jagd, aber die Zwerge hatten den großen Vorteil, dass sie wegen ihrer geringeren Größe kaum mit dem Unterholz ringen mussten, sondern zwischen den Lücken hindurchschlüpfen konnten.