Schon näherten sich die Zwerge dem Waldrand, der Bewuchs lichtete sich.
Tungdil warf keuchend einen Blick nach hinten und sah die Umrisse der Ungeheuer deutlicher als zu Beginn ihrer Flucht. Es wird knapp.
Sie brachen aus dem Forst und verfielen in einen leichten Trab. Die rettende Stadtmauer lag etwas mehr als eine halbe Meile von ihnen entfernt, Goïmgar hatte die Strecke bereits zur Hälfte überwunden.
Was ist das? Zuerst dachte Tungdil, seine Augen spielten ihm einen Streich und gaukelten ihm vor, der dunkle Waldsaum bewegte sich rechts und links von ihnen mit, dann hörte er das Klirren von Kettenhemden und das Klappern von Plattenpanzern, und er verstand. Wir sind mitten in einen Angriff geraten!
Unmittelbar nach ihnen war eine Orkhorde aus dem Schutz der Bäume gebrochen. Er schätzte ihre Zahl auf eintausend, wenn nicht sogar mehr. Sie bildeten bei ihrem Vormarsch eine lebendige schwarze Linie, die sich auf die große Siedlung zubewegte; auch von den anderen Seiten eilten Orks herbei und machten aus der Linie einen Ring, der sich unerbittlich zuzog. Weder für die Stadt noch für die Zwerge schien es ein Entkommen zu geben.
»Rennt!«, peitschte er seine Begleiter an, »rennt, so schnell ihr könnt!«
Goïmgar erreichte das verschlossene Tor, das hinter die sicheren Mauern der unbekannten Stadt führte, und hämmerte mit den Fäusten dagegen. »Lasst mich rein!«, schrie er nach oben, wo er Gesichter hinter den Zinnen erkannte. »Bitte, bei Vraccas dem Schmied, gewährt mir Schutz vor den Horden!«
»Ich finde, er sollte für uns alle bitten«, schnaufte Bavragor in einiger Entfernung.
Eine kleine Pforte öffnete sich. Goïmgar huschte hindurch, und die Tür wurde wieder geschlossen. Als die anderen vier den Durchlass erreichten, blieb er zu.
»He! Wir sind auch noch da!«, rief Bavragor.
Er hat es schon wieder getan, dachte Tungdil enttäuscht. Goïmgar ist nicht zu trauen.
Währenddessen näherten sich die Orks unerbittlich. Pfeile flogen in ihre Richtung und verfehlten sie.
Boïndil wandte sich zu den Angreifern um, die Beile fest in den Händen haltend. »Es sieht so aus, als käme ich doch noch zu meinem kleinen Gefecht«, lachte er und schlug die Rückseiten der Waffen gegeneinander, dass sie laut und tönend klirrten. »Oink, oink!«, verhöhnte er die Horden.
»Holla! Wir gehören zu dem anderen Zwerg!«, begehrte Tungdil Einlass. »Öffnet uns das Tor! Wir sind Zwerge, wir stehen auf eurer Seite!«
Nichts geschah.
Plötzlich waren die Schnellsten der Orks heran und wurden von Ingrimmsch blutig empfangen. Ihr quiekendes Geschrei alarmierte andere Artgenossen, die herbeieilten, um den Zwergen den Garaus zu machen.
Boïndil und Boëndal droschen um sich. Das grüne Blut der Ungeheuer spritzte, und keinem gelang es, bis zu Tungdil und Bavragor vorzudringen. Selbst als Ingrimmsch einen Pfeil ins Bein erhielt, blieb er stehen und tötete lachend einen Ork nach dem anderen.
Erst als ein Dutzend der Bestien erschlagen vor der Pforte lagen, wurde den Zwergen das Tor geöffnet.
Sie mussten Boïndil am Kragen packen und ihn mit Gewalt auf die andere Seite der Mauer zerren, so verbissen widmete er sich den Gegnern. Boëndal redete beruhigend auf ihn ein, bis das irre Flackern in seinen Augen erlosch.
Bavragor nickte Tungdil wissend zu. »Habe ich es nicht gesagt? Er ist wahnsinnig, unberechenbar und gefährlich.«
Tungdil schwieg.
Auf der anderen Seite standen dreißig schwer bewaffnete und gerüstete Menschen, welche die Neuankömmlinge argwöhnisch im Auge behielten. Noch traute man ihnen nicht recht. Goïmgar wartete neben der Tür, sein Gesicht war leichenblass.
Der Hauptmann trat vor. »Wer seid ihr, und was wollt ihr, Unterirdische?«, verlangte er barsch zu wissen.
Tungdil übernahm es, sie der Reihe nach vorzustellen. »Wir sind Zwerge und unterwegs, um nach Orkhorden Ausschau zu halten und sie anzugreifen, wie es Vraccas uns befahl«, versuchte er ihr Erscheinen zu erklären. »Wir hörten, dass das Böse im Geborgenen Land umgeht, stärker als jemals zuvor, und da entschlossen wir uns, den Menschen beizustehen.«
»Mit Erfolg, wie ihr gesehen habt«, fügte Ingrimmsch fröhlich hinzu. »Ich wäre draußen geblieben, um den Schweinchen die Borsten von der Haut zu schälen, aber die hier wollten es nicht mit der kleinen Überzahl aufnehmen.«
Boëndal kniete neben ihm und begutachtete die Wunde, die der Pfeil angerichtet hatte. Da es sich nur um eine Fleischwunde handelte, beschränkte er sich darauf, den Schaft abzubrechen und das verbliebene Stück auf der anderen Seite herauszuziehen. Sein Bruder verzog nicht einmal die Miene; erst als er ein paar getrocknete Kräuter zur Blutstillung auflegte und einen Verband anbrachte, zuckte es kurz in seinem Gesicht.
Der Hauptmann war von der Disziplin des Zwerges sichtlich beeindruckt. »Nun, dann seid willkommen in Mifurdania«, sagte er. »Ihr habt euch einen Zeitpunkt ausgesucht, der für euer Anliegen gut, doch für unsere Stadt schlecht ist. Ihr werdet bald genügend zu tun bekommen. Meldet euch bei mir, wenn ihr bereit seid, zusammen mit uns zu kämpfen.«
Er wandte sich ab. Zehn seiner Krieger blieben an der Pforte zurück und verbarrikadierten sie mit einer zusätzlichen Eisenplatte, welche sie quer vor den Einlass legten und mit langen Bolzen sicherten. Auf der anderen Seite rumpelte es, die Orks versuchten, durch den schmalen Durchlass zu gelangen, aber das Metall war zu stark. Schließlich zogen sich die Ungeheuer zurück.
»Das war knapp. Warum habt ihr gewartet, ehe ihr uns geöffnet habt?«, fragte Bavragor einen der Stadtgardisten.
Der Mann schaute auf den bleichen Goïmgar, der sich nicht aus der Ecke traute. »Der da hat gesagt, wir sollen gleich hinter ihm wieder verriegeln«, lautete die gleichgültige Antwort. »Frag ihn.«
Die Soldaten kümmerten sich nicht weiter um die Zwerge, sondern brachten weitere Sicherungen an dem Eisenverschlag an, damit er den rohen Gewalten Stand hielt. Ein ganzer Wald von Stützstreben erbrachte genügend Gegendruck, um den Aufprall eines Rammbocks auszuhalten.
»Das stimmt nicht«, stammelte der Zwerg. »Ich sagte, dass sie die Tür verriegeln sollen, sobald ihr drinnen seid.« Er wich vor der drohenden Gestalt Hammerfausts zurück und trat aus dem Turm auf den Platz vor dem Tor, um in die Gassen Mifurdanias fliehen zu können.
»Ich glaube dir nicht!«, erzürnte sich Bavragor. »Seit wir unterwegs sind, hast du doch nichts als Niedertracht im Sinn.« Er schwang die breiten Fäuste. »Komm her, damit du dir eine Tracht Prügel abholst.«
»Und wenn er mit dir fertig ist, bin ich an der Reihe«, stimmte Ingrimmsch ein. »Ich rasiere dir deinen affigen Bart mit meinen Beilen.«
Das war zu viel für ihn. Die Androhungen bildlich vor Augen, drehte sich Goïmgar auf dem Absatz herum und floh in das Gewirr der Stadtsträßchen.
»Warte!«, rief Tungdil ihm hinterher, doch er ließ sich nicht aufhalten. So etwas musste früher oder später geschehen. Strafend schaute er zu Bavragor und Boïndil.
»Das habt ihr beide hervorragend hinbekommen«, lobte er sie mit beißendem Spott. »Wir sind von Orks umzingelt, haben eine bedeutende Aufgabe zu erledigen, und ihr verjagt mit eurem kindischen Geschwätz Goïmgar, damit wir auch noch Verstecken mit ihm spielen können. Wir haben bessere Sorgen, oder?« Er gab sich keine Mühe, seine Wut zu unterdrücken. Sollten sie nur sehen, dass er sauer war.
Die beiden Gescholtenen blickten betreten zu Boden.
»Aber er hat uns verraten«, wagte Bavragor aufzubegehren.
»Du hast ihn nicht ausreden lassen«, wies ihn Tungdil scharf zurecht. »Du hast die Worte des Gardisten gehört und ihn gleich angeschrien.«
»Und da hat er Fersengeld gegeben«, meinte Ingrimmsch. »Das sieht für mich schuldig aus.«
»Und schon seid ihr einer Meinung! Wir suchen ihn und klären das Ganze. In aller Ruhe«, schärfte er ihnen ein. Er entdeckte eine Herberge weiter unten in der Straße. »Dort geht ihr beiden hin«, sagte er zu Bavragor und Boïndil, »setzt euch an einen Tisch und bleibt dort, bis Boëndal und ich zurückkehren. Keine Scherereien! Und denkt daran, was ich euch über die Menschen gesagt habe.«