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»Ungeheuerlich!« sagte Miss Tarrant und schüttelte dabei den Kopf so heftig, daß sie aussah wie ein Struwwelpeter. »Barbarisch! Eben rein feudalistisch. Aber was ist schon Geld?«

»Natürlich nichts«, sagte Peter. »Aber wenn man dazu erzogen worden ist, immer welches zu haben, ist es ein bißchen hart, plötzlich darauf verzichten zu müssen. Das ist wie mit dem Baden.«

»Ich verstehe nicht, wie es Mary überhaupt etwas ausgemacht haben kann«, beharrte Miss Tarrant betrübt. »Sie hat sich als Arbeiterin so wohl gefühlt. Einmal haben wir acht Wochen lang versucht, in einem Taglöhnerhaus zu leben, zu fünft, von achtzehn Shilling die Woche. Es war ein herrliches Erlebnis. Unmittelbar am Rande des New Forest.«

»Im Winter?«

»N-nein - wir hatten es für besser gehalten, nicht gleich im Winter anzufangen. Aber wir hatten neun Regentage, und der Kamin in der Küche hat immerzu gequalmt. Sehen Sie, das Holz kam eben aus dem Wald und war so naß.«

»Aha. Das muß ungemein interessant gewesen sein.«

»Es war ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde«, sagte Miss Tarrant. »Man fühlte sich der Erde und allem Ursprünglichen so nah. Wenn wir doch die Industrialisierung abschaffen könnten! Ich fürchte jedoch, daß wir das ohne eine blutige Revolution nie schaffen werden. Es ist schrecklich, versteht sich, aber heilsam und unausweichlich. Trinken wir noch Kaffee? Wir müssen ihn aber selbst nach oben tragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Die Mädchen bringen ihn nach dem Essen nicht mehr rauf.«

Miss Tarrant ging ihre Rechnung begleichen, und als sie zurückkam, drückte sie ihm eine Tasse Kaffee in die Hand. Der Kaffee war schon auf die Untertasse übergeschwappt, und als er sich tastend seinen Weg um einen Wandschirm herum und eine steile, schiefe Treppe hinaufsuchte, wurde noch mehr verschüttet.

Sie tauchten aus dem Keller auf und wären fast mit einem blonden jungen Mann zusammengestoßen, der in einer Reihe kleiner Fächer nach Briefen suchte. Als er nichts fand, begab er sich in den Salon zurück. Miss Tarrant stieß einen Ruf des Entzückens aus.

»Hallo, da ist ja Mr. Goyles«, rief sie.

Wimsey sah in die angegebene Richtung, und beim Anblick der hochgewachsenen, leicht vornübergebeugten Gestalt mit dem unordentlichen Haar und einem Handschuh über der rechten Hand konnte er einen kleinen Erregungslaut nicht unterdrücken.

»Wollen Sie mich nicht vorstellen?« fragte er.

»Ich hole ihn«, sagte Miss Tarrant. Sie bahnte sich einen Weg durch den Salon und sprach den jungen Agitator an, der zusammenschrak, zu Wimsey blickte, den Kopf schüttelte, sich zu entschuldigen schien, einen eiligen Blick auf seine Uhr warf und zur Tür hinausschoß. Wimsey setzte ihm nach.

»Na so was!« sagte Miss Tarrant mit verständnisloser Miene. »Er sagt, er hat eine Verabredung - aber er kann doch nicht einfach die Versammlung -«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Peter. Schon war er draußen, gerade rechtzeitig, um eine dunkle Gestalt über die Straße verschwinden zu sehen. Er nahm die Jagd auf. Der Mann nahm die Beine in die Hand und schien sich in eine dunkle Gasse zu stürzen, die zur Charing Cross Road führt. Wimsey, der ihm folgte, wurde plötzlich geblendet von einem Blitz und einer Rauchwolke fast unmittelbar vor seinem Gesicht. Ein schwerer Schlag gegen die linke Schulter, ein ohrenbetäubender Knall, und die Welt drehte sich um ihn. Er taumelte und fiel auf ein altes, ehernes Bettgestell.

Mr. Parker notiert

»Ein Mann ging in den Zoo und ließ sich zur Giraffe führen. Nachdem er sie eine Weile stumm betrachtet hatte, sagte er: >Und ich glaub 's nicht, <«

Parker war zuerst geneigt, an seinem eigenen Verstand zu zweifeln; dann an Lady Marys. Und nachdem sich endlich die Wolken aus seinem Gehirn verzogen hatten, entschied er, daß sie wohl lediglich nicht die Wahrheit sagte.

»Nun, Lady Mary«, sagte er in aufmunterndem, zugleich aber auch tadelndem Ton wie zu einem Kind, das eine zu lebhafte Phantasie hat, »Sie erwarten doch nicht, daß wir Ihnen das glauben, oder?«

»Aber Sie müssen«, sagte sie ernst, »es ist einfach wahr. Ich habe ihn erschossen. Ich war's wirklich. Es war nicht direkt meine Absicht, sondern - nun ja, eigentlich mehr ein Unfall.«

Mr. Parker stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

»Sie bringen mich in eine schreckliche Lage, Lady Mary«, sagte er. »Sehen Sie, ich bin Polizeibeamter. Ich hätte nie gedacht -«

»Das macht doch nichts«, sagte Lady Mary. »Natürlich werden Sie mich verhaften müssen, oder festnehmen oder wie Sie das sonst nennen. Dazu bin ich ja hier. Ich bin vollkommen bereit, ohne Aufsehen mitzukommen - ist das der richtige Ausdruck? Trotzdem möchte ich zuerst alles erklären. Natürlich hätte ich das längst tun müssen, aber ich hatte eben den Kopf verloren, leider. Ich hatte nicht bedacht, daß man Gerald verdächtigen könnte. Ich hatte gehofft, man würde Selbstmord vermuten. Soll ich jetzt vor Ihnen meine Aussage machen? Oder besser im Polizeipräsidium?«

Parker stöhnte.

»Man wird - mich nicht so schwer bestrafen, wenn es ein Unfall war, nicht?« In ihrer Stimme lag ein Zittern.

»Nein - natürlich nicht. Aber wenn Sie doch nur schon früher den Mund aufgemacht hätten! Nein«, sagte Parker plötzlich und hielt mitten im Schritt inne, um sich neben sie zu setzen. »Das ist unmöglich - vollkommen absurd.« Mit einemmal nahm er Lady Marys Hände in die seinen. »Davon kann mich nichts überzeugen«, sagte er. »Es ist widersinnig. Das paßt nicht zu Ihnen.«

»Aber wenn es doch ein Unfall -«

»Das meine ich ja gar nicht - Sie wissen, daß ich das nicht meine. Aber daß Sie geschwiegen haben sollen -«

»Ich hatte Angst. Aber jetzt will ich reden.«

»Nein, nein, nein!« rief der Detektiv. »Sie lügen mir etwas vor. Aus ehrenwerten Motiven, das weiß ich; aber das ist es nicht wert. Kein Mann kann das wert sein. Lassen Sie ihn laufen, ich beschwöre Sie. Sagen Sie die Wahrheit. Decken Sie diesen Mann nicht. Wenn er Denis Cathcart ermordet hat -«

»Nein!« Die Frau sprang auf und entriß ihm ihre Hände. »Es war gar kein anderer Mann da. Wie können Sie so etwas überhaupt sagen oder denken! Ich habe Denis Cathcart getötet; ich sage es Ihnen, und Sie sollen es mir glauben. Ich schwöre, daß kein anderer Mann zugegen war.«

Parker nahm sich zusammen.

»Setzen Sie sich, bitte. Lady Mary, sind Sie fest entschlossen, diese Aussage zu machen?«

»Ja.«

»Obwohl Sie wissen, daß ich dann dementsprechend handeln muß?«

»Wenn Sie mich nicht anhören, gehe ich direkt zur Polizei.«

Parker zückte sein Notizbuch. »Fangen Sie an«, sagte er.

Nur ihre Hände spielten nervös mit den Handschuhen, sonst aber verriet Lady Mary keinerlei Emotionen, als sie mit klarer, fester Stimme ihr Geständnis abzulegen begann, als rezitierte sie etwas auswendig Gelerntes.

»Am Mittwochabend, dem 13. Oktober, ging ich um halb zehn in mein Zimmer hinauf. Ich blieb noch auf, um einen Brief zu schreiben. Um Viertel nach zehn hörte ich meinen Bruder und Denis auf dem Flur streiten. Ich hörte, wie mein Bruder Denis einen Betrüger nannte und ihm verbot, jemals wieder mit mir zu sprechen. Dann hörte ich Denis aus dem Haus laufen. Ich lauschte eine Zeitlang, hörte ihn aber nicht zurückkommen. Um halb zwölf begann ich unruhig zu werden. Ich zog mich um und ging hinaus, um Denis zu suchen und ihn ins Haus zurückzuholen. Ich fürchtete, er könne irgendeine Verzweiflungstat begehen. Nach einer Weile fand ich ihn im Gebüsch. Ich bat ihn, mit mir zu kommen. Er weigerte sich und erzählte mir von den Vorwürfen meines Bruders und dem Streit. Ich war natürlich furchtbar entsetzt. Er meinte, es habe keinen Zweck, etwas zu leugnen, wenn Gerald ja doch entschlossen sei, ihn zu ruinieren, und er bat mich, mit ihm fortzugehen und ihn zu heiraten und im Ausland mit ihm zu leben. Ich sagte, ich sei erstaunt, daß er unter den Umständen so etwas vorschlage. Wir erregten uns beide sehr. Ich sagte: >Komm jetzt ins Haus. Du kannst morgen mit dem ersten Zug abreisen.c Er schien fast von Sinnen. Er zog eine Pistole und sagte, er sei am Ende, sein Leben sei ruiniert, wir alle wären eine Bande von Heuchlern, und mir hätte nie etwas an ihm gelegen, sonst wäre es mir gleich, was er getan habe. Jedenfalls, wenn ich nicht mit ihm käme, sagte er, sei alles aus, und wenn schon, denn schon - er werde zuerst mich und dann sich erschießen. Ich glaube, er hatte vollkommen den Verstand verloren, Er zog den Revolver; ich packte seine Hand; wir kämpften; ich drückte ihm die Mündung gegen die Brust und -entweder habe ich abgedrückt oder das Ding ist von selbst losgegangen - das weiß ich nicht genau. Es ging alles so schnell und durcheinander.«