Sie verstummte. Mr. Parkers Feder notierte die Worte, während sein Gesicht immer sorgenvoller wurde. Lady Mary fuhr fort:
»Er war nicht gleich tot. Ich habe ihm aufgeholfen. Wir haben es fast bis zum Haus geschafft. Einmal ist er gefallen -«
»Warum«, fragte Parker, »haben Sie ihn nicht liegen gelassen und sind ins Haus gelaufen, um Hilfe zu holen?«
Lady Mary zögerte.
»Das ist mir nicht eingefallen. Es war wie ein Alptraum. Ich konnte nur daran denken, wie ich ihn fortbekäme. Ich glaube -ich glaube, ich wollte, daß er starb.«
Es folgte eine gequälte Pause.
»Er ist gestorben. Vor der Tür ist er gestorben. Ich bin in den Wintergarten gegangen und habe mich hingesetzt. Stundenlang habe ich dagesessen und versucht zu denken. Ich habe ihn gehaßt, weil er ein Betrüger und ein Schuft war. Ich war auf ihn hereingefallen, verstehen Sie - zum Narren gehalten worden von einem gemeinen Falschspieler. Ich war froh, daß er tot war. Ich muß stundenlang dagesessen haben, ohne einen zusammenhängenden Gedanken fassen zu können. Erst als mein Bruder kam, ist mir richtig klargeworden, was ich getan hatte und daß man mich verdächtigen könnte, ihn ermordet zu haben. Ich hatte einfach schreckliche Angst. Darum habe ich mich in einem Sekundenbruchteil entschlossen, so zu tun, als ob ich von nichts wüßte - als ob ich einen Schuß gehört hätte und heruntergekommen wäre. Sie wissen ja, was ich getan habe.«
»Nun, Lady Mary«, sagte Parker in vollkommen ungerührtem Ton, »warum haben Sie dann zu Ihrem Bruder gesagt: >Mein Gott, Gerald, du hast ihn getötet«?«
Erneutes Zögern.
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: >Mein Gott, Gerald, er ist also tot.< Ich hatte nie etwas anderes andeuten wollen als Selbstmord.«
»Sie haben diese Worte aber bei der Untersuchungsverhandlung bestätigt.«
»Ja -« Ihre Hände knautschten die Handschuhe in alle möglichen Formen. »Inzwischen hatte ich mir doch diese Einbrechergeschichte zurechtgelegt.«
Das Telefon klingelte, und Parker ging an den Apparat. Eine Stimme tönte dünn durch den Draht:
»Ist dort 110 A Piccadilly? Hier Krankenhaus Charing Cross. Heute nacht wurde hier ein Mann eingeliefert, der angibt, Lord Peter Wimsey zu sein. Er hat einen Schuß in die Schulter bekommen und sich beim Hinfallen den Kopf angeschlagen. Er ist eben erst wieder zu Bewußtsein gekommen. Man hat ihn um Viertel nach neun gebracht. Nein, jetzt geht es ihm wahrscheinlich wieder sehr gut. Doch, kommen Sie auf alle Fälle.«
»Peter ist angeschossen worden«, sagte Parker. »Kommen Sie mit zum Krankenhaus Charing Cross? Sie sagen, er ist nicht in Lebensgefahr; trotzdem -«
»Schnell!« rief Lady Mary.
In der Diele schnappten sie sich schnell noch Mr. Bunter, dann rannten Polizist und Selbstbezichtigte auf den Piccadilly hinaus, erwischten an der Hyde Park Corner ein spätes Taxi und fuhren in rasendem Tempo durch die leeren Straßen.
Goyles
»Und die Moral davon ist -« sagte die Herzogin ...
Alice im Wunderland
Vier Personen saßen am nächsten Morgen zu einem sehr späten Frühstück, oder einem sehr frühen Lunch, in Lord Peters Wohnung versammelt. Der fröhlichste von ihnen war, trotz schmerzender Schulter und entsetzlichem Kopfweh, zweifellos Lord Peter selbst, der zwischen weichen Kissen auf dem Sofa lag und Tee und Toast schlemmte. Nachdem man ihn im Krankenwagen nach Hause gebracht hatte, war er sofort in einen heilsamen Schlaf gesunken und um neun Uhr mit klarem Verstand und überaus unternehmungslustig aufgewacht. Daraufhin hatte er Mr. Parker, nur halb gesättigt und beladen mit der verheimlichten Erinnerung an die Enthüllungen des vergangenen Abends, auf schnellstem Wege zu Scotland Yard geschickt, um die Maschinerie in Gang zu setzen, die Peters Attentäter fangen sollte. »Aber sag nichts von dem Angriff auf mich«, hatte Seine Lordschaft gesagt. »Sag ihnen nur, daß er als Zeuge im Fall Riddlesdale benötigt wird. Das ist alles, was die wissen müssen.« Jetzt war es elf, und Mr. Parker war zurückgekehrt, verdrießlich und hungrig, und ließ sich ein spätes Omelett zu einem Glas Rotwein schmecken.
Lady Mary Wimsey saß zusammengekauert am Fenster. Ihr goldblonder Haarschopf umgab ihr Gesicht im Schein der blassen Herbstsonne mit einem feinen Schimmer. Sie hatte schon vorher etwas zu frühstücken versucht; jetzt saß sie nur noch da und starrte auf den Piccadilly hinaus. Heute morgen war sie zunächst in Lord Peters Morgenmantel erschienen, aber inzwischen trug sie einen Rock aus Serge und einen jadegrünen Jumper; diese Kleidungsstücke hatte ihr die vierte im Bunde, die jetzt gelassen einen Mixed Grill verzehrte und sich mit Parker die Karaffe Rotwein teilte, nach London mitgebracht.
Es handelte sich um eine kleine, etwas pummelige, aber sehr energische ältere Dame mit funkelnden schwarzen Vogelaugen und sehr schönem, kunstvoll frisiertem weißem Haar. Man sah ihr nicht an, daß sie gerade eine lange Nachtfahrt hinter sich hatte; vielmehr war sie von den im Zimmer Anwesenden mit Abstand die ruhigste und frischeste. Was jedoch nicht ausschloß, daß sie sehr ärgerlich war und dies auch wortreich zum Ausdruck brachte. Es war die Herzoginwitwe von Denver.
»Es wäre ja nicht einmal das schlimmste, Mary, daß du gestern abend so plötzlich verschwunden bist - ausgerechnet vorm Abendessen -, diese Umstände und der Schrecken, den du uns eingejagt hast - der armen Helen hat nicht einmal mehr das Abendessen geschmeckt, und das war ihr so unangenehm, denn du weißt doch, wie großen Wert sie darauf legt, sich nie von irgend etwas aus der Ruhe bringen zu lassen - was ich nun wirklich nicht verstehe, denn von den größten Männern haben einige sich nie geniert, ihre Gefühle zu zeigen, wobei ich nicht einmal unbedingt an die Südländer denke, sondern wie Mr. Chesterton ganz richtig sagt - Nelson ja auch, und der war ja nun wirklich Engländer, wenn nicht Ire oder Schotte, das weiß ich nicht mehr, jedenfalls Vereinigtes Königreich (sofern das heutzutage noch etwas heißen will in einem Freistaat - so ein alberner Name, wo er einen doch immer an den OranjeFreistaat erinnert, und damit wollen die doch bestimmt nicht verwechselt werden, wo sie selbst so grün sind). Und einfach ohne angemessene Kleidung loszuziehen und den Wagen mitzunehmen, so daß ich auf den Ein-Uhr-fünfzehn-Zug von Northallerton warten mußte - so eine unmögliche Zeit zum Aufbruch, und so ein schlechter Zug obendrein, der hier erst um 10 Uhr 30 ankommt. Außerdem, wenn du schon unbedingt in die Stadt fahren mußtest, warum so Hals über Kopf? Wenn du vorher wenigstens den Fahrplan studiert hättest, wäre dir nämlich aufgefallen, daß du in Northallerton eine halbe Stunde Aufenthalt haben würdest, so daß du ohne weiteres noch einen Koffer hättest packen können. Es ist soviel besser, gründlich und ordentlich zu Werke zu gehen - auch wenn man etwas Dummes vorhat. Und es war wirklich sehr dumm von dir, so einfach zu verschwinden und dem armen Mr. Parker mit solch dummem Geschwätz auf die Nerven zu gehen - obwohl ich annehme, daß du eigentlich zu Peter wolltest. Weißt du, Peter, wenn du dich schon in schlechten Lokalen herumtreibst, wo lauter Russen und unreife Sozialisten verkehren, solltest du eigentlich etwas Besseres wissen, als sie auch noch zu ermuntern, indem du ihnen nachläufst, und wenn sie alle noch so unwichtig sind und zuviel Kaffee trinken und Gedichte schreiben, an denen nichts dran ist, und sich überhaupt nur die Nerven ruinieren. Und eingebracht hat es sowieso nichts; ich hätte Peter alles selbst sagen können, falls er es nicht überhaupt schon weiß, was anzunehmen ist.«