Mary errötete indigniert.
»Meine Schwester hat sich Ihnen gegenüber außerordentlich loyal verhalten, Mr. Goyles«, sagte Lord Peter. »Ich kann sogar sagen, daß sie sich Ihretwegen größten Unannehmlichkeiten -um nicht zu sagen Gefahren - ausgesetzt hat. Ihr Weg nach London konnte deshalb verfolgt werden, weil Sie bei Ihrem überaus eiligen Rückzug eindeutige Spuren hinterlassen hatten. Als meine Schwester dann versehentlich ein Telegramm öffnete, das mir unter meinem Familiennamen nach Riddlesdale geschickt worden war, ist sie stehenden Fußes nach London geeilt, um Sie zu schützen, so gut sie konnte und ohne Rücksicht auf ihre eigene Person. Glücklicherweise war mir der Wortlaut des Telegramms auch in meine Londoner Wohnung übermittelt worden. Dennoch war ich mir Ihrer Identität so lange nicht sicher, bis ich Ihnen im Sowjet-Club zufällig begegnete. Da allerdings gaben mir Ihre energischen Bemühungen, einem Gespräch mit mir auszuweichen, nicht nur die völlige Gewißheit, sondern außerdem einen ausgezeichneten Grund, Sie festnehmen zu lassen. Ich muß sagen, ich bin Ihnen für Ihre Hilfe ausgesprochen dankbar.«
Mr. Goyles machte ein böses Gesicht.
»Ich weiß nicht, wie du denken konntest, George -« sagte Mary.
»Was ich denke, braucht dich nicht zu kümmern«, sagte der junge Mann grob. »Mittlerweile wirst du ihnen ja sowieso alles erzählt haben. Nun gut, ich will Ihnen meine Geschichte so kurz wie möglich schildern, und Sie werden sehen, daß ich alles ganz genau weiß. Wenn Sie mir nicht glauben, kann ich's nicht ändern. Ich bin gegen Viertel vor drei angekommen und hab die Karre auf dem Feldweg abgestellt.«
»Wo waren Sie um elf Uhr fünfzig?«
»Auf der Straße von Northallerton. Meine Versammlung war erst Viertel vor elf zu Ende, und dafür kann ich Ihnen an die hundert Zeugen bringen.«
Wimsey notierte sich die Adresse, wo die Versammlung stattgefunden hatte, und nickte Goyles zu, fortzufahren.
»Ich bin über den Zaun gestiegen und durchs Gebüsch gegangen.«
»Sie haben niemanden gesehen, auch keine Leiche?«
»Keinen Menschen, weder lebendig noch tot.«
»Sind Ihnen irgendwelche Blutspuren oder Fußabdrücke auf dem Weg aufgefallen?«
»Nein, ich hab mich nicht getraut, meine Taschenlampe anzuknipsen, weil man mich dann aus dem Haus hätte sehen können. Es war gerade hell genug, um den Weg zu erkennen. Kurz vor drei war ich an der Wintergartentür. Und wie ich dort ankam, bin ich über etwas gestolpert. Ich hab's gefühlt, und es fühlte sich an wie ein Mensch. Ich bin böse erschrocken. Zuerst dachte ich nämlich, es sei Mary - krank oder ohnmächtig oder was weiß ich. Jedenfalls habe ich kurz meine Taschenlampe angeknipst. Und da sah ich, daß es Cathcart war, tot.«
»Sind Sie sicher, daß er tot war?«
»Mausetot.«
»Einen Augenblick«, unterbrach der Anwalt. »Sie sagen, Sie hätten gesehen, daß es Cathcart war. Kannten Sie Cathcart denn überhaupt?«
»Nein, das nicht. Ich wollte sagen, ich sah, daß es ein toter Mann war, und hinterher habe ich erfahren, daß es Cathcart war.«
»Dann wissen Sie also auch jetzt nicht aus eigener Anschauung, daß es Cathcart war?«
»Doch - zumindest habe ich später die Fotos in der Zeitung wiedererkannt.«
»Es ist sehr wichtig, sich bei solchen Aussagen genau auszudrücken, Mr. Goyles. Eine Bemerkung wie die von vorhin könnte auf die Polizei oder die Geschworenen einen sehr unglücklichen Eindruck machen.«
Nach diesen Worten schneuzte Mr. Murbles sich die Nase und rückte seinen Kneifer gerade.
»Wie weiter?« fragte Lord Peter.
»Ich glaubte jemanden den Weg heraufkommen zu hören. Da habe ich es nicht für ratsam gehalten, mich bei dem Toten erwischen zu lassen, und ich bin getürmt.«
»Oh«, machte Peter mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck. »Das war allerdings eine sehr einfache Lösung. Sie überließen das Mädchen, das Sie heiraten wollten, sich selbst und der unerfreulichen Entdeckung, daß im Garten ein Toter lag und ihr galanter Freier das Hasenpanier ergriffen hatte. Was haben Sie eigentlich erwartet, wie sie darüber denken würde?«
»Nun, ich hab gedacht, sie wird sich selbst zuliebe den Mund halten. Aber eigentlich habe ich überhaupt nicht so ausführlich nachgedacht. Ich wußte nur, daß ich irgendwo eingedrungen war, wo ich nichts zu suchen hatte, und daß es ziemlich böse für mich aussehen könnte, wenn ich bei einem Ermordeten angetroffen würde.«
»Mit anderen Worten«, sagte Mr. Murbles, »Sie haben den Kopf verloren, junger Mann, und sind sehr unbedacht und feige davongerannt.«
»Sie brauchen das gar nicht so auszudrücken«, erwiderte Mr. Goyles. »Ich befand mich zunächst in einer ausgesprochen unangenehmen und blöden Lage.«
»Ja, ja«, meinte Lord Peter ironisch. »Drei Uhr morgens ist ja auch eine eklige, kalte Tageszeit. Wenn Sie demnächst mal wieder durchbrennen wollen, tun Sie's um sechs Uhr abends oder um Mitternacht. Sie scheinen sich auf die Planung von Verschwörungen besser zu verstehen als auf ihre Ausführung. Bei der kleinsten Kleinigkeit gehen Ihnen schon die Nerven durch. Wissen Sie, ich finde wirklich nicht, daß einer wie Sie auch noch Schußwaffen tragen sollte. Können Sie mir vielleicht mal sagen, Sie reinrassiges Eselsfohlen, welcher Teufel Sie geritten hat, gestern abend auf mich zu ballern? Wenn Sie mich in den Kopf oder ins Herz oder sonst an einer lebenswichtigen Stelle getroffen hätten, dann befänden Sie sich jetzt allerdings in einer unangenehmen Situation. Wenn Sie schon solche Angst vor Toten haben, warum laufen Sie dann herum und schießen auf die Leute? Warum, warum, warum? Das will mir nicht in den Kopf. Denn wenn Sie jetzt die Wahrheit gesagt haben, waren Sie doch nie in der allermindesten Gefahr. Mein Gott! Und wieviel Zeit und Ärger es uns gekostet hat, Sie einzufangen - Sie Esel! Und die arme Mary dreht durch und bringt sich fast um, weil sie denkt, Sie wären doch nicht weggelaufen, wenn Sie nicht wenigstens einen triftigen Grund gehabt hätten!«
»Man muß wohl einem nervösen Naturell einiges nachsehen«, sagte Mary kalt.
»Wenn ihr wüßtet, wie das ist, beschattet und verfolgt und gehetzt zu werden -« begann Mr. Goyles.
»Ich dachte, ihr Leute vom Sowjet-Club genießt es geradezu, wenn man euch alles mögliche zutraut«, sagte Lord Peter. »Also, ich finde, es hätte der stolzeste Augenblick Ihres Lebens sein müssen, als man Sie für einen wirklich gefährlichen Burschen hielt.«
»Und das hämische Geschwätz von Leuten wie Ihnen«, entgegnete Goyles mit Leidenschaft, »sät mehr Haß zwischen den Klassen als -«
»Sparen wir uns das«, unterbrach Mr. Murbles. »Gesetz ist, Gesetz, für jeden, junger Mann, und Sie haben es fertiggebracht, sich in eine sehr unangenehme Lage zu bringen.« Er drückte eine Klingel auf dem Tisch, woraufhin Parker in Begleitung eines Konstablers eintrat. »Wir wären Ihnen sehr verbunden«, sagte Mr. Murbles, »wenn Sie diesen jungen Mann freundlicherweise im Auge behalten könnten. Wir erstatten keine Anzeige gegen ihn, solange er sich benimmt, aber er darf nicht versuchen, sich abzusetzen, bevor der Fall Riddlesdale zur Verhandlung kommt.«
»Gewiß nicht, Sir«, sagte Mr. Parker.
»Einen Augenblick noch«, sagte Mary. »Mr. Goyles, hier ist der Ring, den Sie mir einmal gegeben haben. Leben Sie wohl. Wenn Sie das nächste Mal eine öffentliche Rede halten und für entschiedenes Handeln eintreten, komme ich applaudieren. Sie können über derlei Dinge so gut sprechen. Ansonsten aber halte ich es für besser, wenn wir uns nicht wiedersehen.«
»Natürlich«, sagte der junge Mann bitter, »deine Leute haben mich in diese Lage gebracht, und nun kehrst du dich gegen mich und verhöhnst mich auch.«
»Zu glauben, daß Sie ein Mörder wären, hat mich nicht gestört«, sagte Lady Mary voller Verachtung, »aber es stört mich, daß Sie so ein Hampelmann sind.«
Ehe Mr. Goyles etwas erwidern konnte, bugsierte Mr. Parker, verlegen, aber nicht gerade mißvergnügt, seinen Schützling aus dem Zimmer. Mary trat ans Fenster, wo sie stehenblieb und sich auf die Lippen biß.