»Der Herr will Sie sprechen.«
»Wo ist denn Mrs. Grimethorpe?« fragte Peter rasch.
»In der Käserei, glaub ich.«
»Ich gehe zu ihr hinaus«, sagte Wimsey und war schon draußen. Er ging durch die gekachelte Spülküche und dann über einen Hof, gerade als Mrs. Grimethorpe gegenüber aus einem dunklen Eingang trat.
Wie sie da im Türrahmen stand, kaum daß die kalte Sonne ihr starres, totenbleiches Gesicht und das füllige dunkle Haar berührte, war sie schöner denn je. In den großen dunklen Augen und den geschwungenen Lippen war nicht die Spur von Yorkshire-Blut zu entdecken. Die Form der Nase und Wangenknochen sprach von einer unendlich fernen Herkunft; wie sie dort aus der Dunkelheit kam, hätte sie soeben ihrem Grabmal bei den Pyramiden entstiegen sein und sich die vertrockneten, balsamierten Mumientücher von den Händen gestreift haben können.
Lord Peter riß sich zusammen.
»Fremdländisch«, sagte er ruhig bei sich. »Leichter jüdischer - oder spanischer? - Einschlag. Bemerkenswerter Typ. Kann es Jerry nicht verdenken. Würde es ja selbst nicht bei Helen aushalten. Und jetzt los.«
Er trat schnell auf sie zu.
»Guten Morgen«, sagte sie. »Geht es Ihnen jetzt besser?«
»Danke, ausgezeichnet - dank Ihrer Güte, von der ich nicht weiß, wie ich sie Ihnen vergelten soll.«
»Sie vergelten mir jede Güte am besten, indem Sie sofort gehen«, antwortete sie mit ihrer wie abwesend klingenden Stimme. »Mein Mann mag keine Fremden, und Ihre erste Begegnung ist sehr unglücklich verlaufen.«
»Ich gehe auch gleich. Aber zuerst muß ich Sie um ein kurzes Wort bitten.« Er sah an ihr vorbei in die Düsternis der Käserei. »Vielleicht da drinnen?«
»Was wollen Sie von mir?«
Trotzdem trat sie zurück und gestattete ihm, ihr zu folgen.
»Mrs. Grimethorpe, ich befinde mich in einer äußerst peinlichen Lage. Sie wissen, daß mein Bruder, der Herzog von Denver, im Gefängnis sitzt und wegen eines Mordes angeklagt werden soll, der in der Nacht des 13. Oktober geschehen ist?«
Ihr Gesicht zeigte keine Regung. »Ich weiß davon.«
»Er weigert sich auf das entschiedenste, zu sagen, wo er in der betreffenden Nacht zwischen elf und drei Uhr war. Seine Weigerung bringt ihn in große Lebensgefahr.«
Sie sah ihn fest an.
»Er fühlt sich bei seiner Ehre verpflichtet zu schweigen, aber ich weiß, daß er einen Entlastungszeugen beibringen könnte, wenn er spräche.«
»Es scheint ein Mann von Ehre zu sein.« Ihre kalte Stimme schwankte ein wenig, fing sich aber gleich wieder.
»Ja. Zweifellos tut er aus seiner Sicht das Richtige. Sie werden jedoch verstehen, daß ich als sein Bruder natürlich darauf bedacht bin, die Dinge ins rechte Licht zu rücken.«
»Ich weiß nicht, warum Sie mir das sagen. Wenn es etwas Ehrenrühriges ist, will er es wahrscheinlich nicht bekannt werden lassen.«
»So sieht es aus. Aber für uns - seine Frau und seinen kleinen Sohn sowie seine Schwester und mich - stehen sein Leben und seine Sicherheit an erster Stelle.«
»Noch vor seiner Ehre?«
»Das Geheimnis ist zwar auf gewisse Weise entehrend und wird seiner Familie unangenehm sein. Aber es wäre noch unendlich entehrender, wenn er wegen Mordes hingerichtet würde. In diesem Falle würde die Schande auf alle fallen, die seinen Namen tragen. Die Schande der Wahrheit wird, wie ich fürchte, in dieser unserer höchst ungerechten Gesellschaft mehr auf diejenige fallen, die sein Alibi bezeugt, als auf ihn selbst.«
»Können Sie dann von dieser Zeugin erwarten, daß sie sich meldet?«
»Um die Verurteilung eines Unschuldigen zu verhindern? Ja, ich glaube sogar das erwarten zu dürfen.«
»Ich frage noch einmal - warum erzählen Sie das alles mir?«
»Weil Sie, Mrs. Grimethorpe, besser wissen als ich, wie unschuldig mein Bruder an diesem Mord ist. Glauben Sie mir, es schmerzt mich sehr, Ihnen das sagen zu müssen.«
»Ich weiß nichts von Ihrem Bruder.«
»Verzeihung, aber das ist nicht wahr.«
»Ich weiß nichts. Und vor allem sollten Sie, wenn der Herzog nicht reden will, seine Gründe respektieren.«
»Ich bin in keiner Weise gebunden.«
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen auch nicht helfen. Sie verschwenden Ihre Zeit. Wenn Sie Ihren fehlenden Zeugen oder die Zeugin nicht aufbieten können, warum versuchen Sie dann nicht, den wirklichen Mörder zu finden? Wenn Sie das tun, brauchen Sie sich um dieses Alibi gewiß nicht zu kümmern. Wo Ihr Bruder war, ist allein seine Sache.«
»Ich wollte«, sagte Wimsey, »Sie würden sich nicht auf diesen Standpunkt stellen. Glauben Sie mir, ich hätte alles in meinen Kräften Stehende getan, um Sie zu schonen. Ich habe mir die allergrößte Mühe gegeben, den wirklichen Mörder zu finden, wie Sie mir raten, aber ohne Erfolg. Der Prozeß wird voraussichtlich Ende dieses Monats stattfinden.«
Ihre Lippen zuckten bei dieser Mitteilung ein wenig, aber sie sagte nichts.
»Ich hatte gehofft, wir könnten uns mit Ihrer Hilfe auf irgendeine Erklärung einigen - es müßte vielleicht nicht die ganze Wahrheit sein, aber immerhin so viel, daß mein Bruder entlastet würde. Nach Lage der Dinge fürchte ich allerdings, daß ich den Beweis, den ich habe, vorlegen muß, und dann wird alles seinen Lauf nehmen.«
Das endlich wirkte. Ihre Wangen liefen dunkelrot an; ihre eine Hand krallte sich um den Griff des Butterfasses.
»Was meinen Sie mit Beweis?«
»Ich kann beweisen, daß mein Bruder in der Nacht des 13. Oktober in dem Zimmer gewesen ist, in dem ich letzte Nacht geschlafen habe«, sagte Wimsey mit wohlberechneter Brutalität.
Sie zuckte zusammen. »Das ist gelogen. Sie können das nicht beweisen. Er wird es abstreiten. Ich werde es abstreiten.«
»Er war also nicht da?«
»Nein.«
»Wie kommt dann das hier in den Rahmen Ihres Schlafzimmerfensters?«
Beim Anblick des Briefes brach sie zusammen und taumelte gegen den Tisch. Ihre starren Gesichtszüge verzerrten sich zu einer Maske blanken Entsetzens.
»Nein, nein, nein! Das ist nicht wahr! Gott steh mir bei!«
»Still doch!« sagte Wimsey gebieterisch. »Sonst hört Sie noch einer.« Er half ihr auf die Beine. »Sagen Sie die Wahrheit, und wir wollen sehen, ob es nicht einen Ausweg gibt. Es ist wahr - er war in dieser Nacht hier?«
»Sie wissen es doch.«
»Wann ist er gekommen?«
»Viertel vor zwölf.«
»Wer hat ihn ins Haus gelassen?«
»Er hatte die Schlüssel.«
»Wann hat er Sie verlassen?«
»Kurz nach zwei.«
»Ja, das paßt. Eine Dreiviertelstunde für den Hinweg und eine Dreiviertelstunde für den Rückweg. Das hier hat er zwischen die Fenster geklemmt, nehme ich an, damit sie zu klappern aufhörten?«
»Es war so ein starker Wind - ich war nervös. Bei jedem Geräusch habe ich gedacht, das ist mein Mann, der zurückkommt.«
»Wo war Ihr Mann?«
»In Stapley.«
»Hatte er einen Verdacht?«
»Eine Zeitlang ja.«
»Seit mein Bruder im August hiergewesen war?«
»Ja. Aber er konnte nichts beweisen. Wenn er einen Beweis gefunden hätte, er hätte mich umgebracht. Sie haben ihn ja erlebt. Er ist ein Teufel.«
»Mhm.«
Wimsey schwieg. Die Frau sah ihm angstvoll ins Gesicht und schien dort eine gewisse Hoffnung zu lesen, denn sie umklammerte seinen Arm.
»Wenn Sie mich als Zeugin aufrufen«, sagte sie, »dann weiß er es. Dann wird er mich umbringen. Haben Sie doch um Gottes willen Mitleid! Dieser Brief ist mein Todesurteil. Bei der Mutter, die Sie geboren hat, haben Sie Erbarmen mit mir. Mein Leben ist schon die Hölle, und wenn ich sterbe, werde ich zur Hölle fahren für meine Sünde. Finden Sie einen anderen Ausweg - Sie können es - Sie müssen es.«
Wimsey machte sich sanft von ihr los.