Da die Anklage nun nicht gut den Herzog von Denver aufrufen konnte, war die erste wichtige Zeugin Lady Mary Wimsey. Nachdem sie ihre Beziehungen zu dem Ermordeten dargelegt und den Streit geschildert hatte, fuhr sie fort: »Um drei Uhr morgens stand ich auf und ging nach unten.«
»Aus welchem Anlaß taten Sie das?« fragte Sir Wigmore und sah sich mit der Miene eines Mannes im Gerichtssaal um, der seinen großen Auftritt einleitet.
»Wegen einer Verabredung, die ich mit einem Freund getroffen hatte.«
Alle Reporter sahen plötzlich auf wie Hunde in Erwartung eines Stücks Kuchen, und Sir Wigmore schrak so heftig zusammen, daß er seine Akte vom Tisch stieß und diese dem unter ihm sitzenden Sekretär des Oberhauses auf den Kopf fiel.
»Ich darf doch bitten! Zeugin, bedenken Sie, daß Sie unter Eid stehen, und sehen Sie sich vor. Was hat Sie um drei Uhr aufgeweckt?«
»Ich habe gar nicht geschlafen. Ich wartete auf den Zeitpunkt meiner Verabredung.«
»Und während Sie warteten, haben Sie da etwas gehört?«
»Nein, nichts.«
»Aber, Lady Mary, ich habe hier Ihre beeidete Aussage vor dem Untersuchungsrichter. Ich lese sie Ihnen vor. Hören Sie bitte gut zu. Sie sagen: >Um drei Uhr wurde ich durch einen Schuß geweckt. Ich glaubte, es seien Wilddiebe. Es klang sehr laut und nah beim Haus. Ich ging hinunter, um nachzusehen, was es war.< Erinnern Sie sich, diese Aussage gemacht zu haben?«
»Ja, aber das war nicht die Wahrheit.«
»Nicht die Wahrheit?«
»Nein.«
»Wollen Sie angesichts dieser Aussage noch immer behaupten, Sie hätten um drei Uhr nichts gehört?«
»Ich habe gar nichts gehört; ich bin hinuntergegangen, weil ich eine Verabredung hatte.«
»Meine Lords«, sagte Sir Wigmore, sehr rot im Gesicht, »ich muß Sie um Ihre Erlaubnis bitten, diese Zeugin als Zeugin der Gegenseite zu behandeln.«
Aber auch die heftigsten Angriffe Sir Wigmores brachten kein anderes Ergebnis als die immer wiederholte Feststellung, daß zu keiner Zeit ein Schuß gehört worden sei. Auf die Entdeckung der Leiche angesprochen, sagte Lady Mary, sie habe, als sie sagte: >Mein Gott, Gerald, du hast ihn getötet<, unter dem Eindruck gestanden, daß der Tote der Freund gewesen sei, mit dem sie verabredet war. Hier entspann sich nun ein hitziges Wortgefecht zu der Frage, ob die näheren Umstände dieser Verabredung für den Prozeß erheblich seien. Die Lords entschieden, daß sie eigentlich erheblich seien; und somit kam die ganze Goyles-Geschichte heraus, verbunden mit der Mitteilung, daß Mr. Goyles anwesend sei und als Zeuge aufgerufen werden könne. Schließlich übergab Sir Wigmore Wrinching die Zeugin mit einem vernehmlichen Schnauben an Sir Impey Biggs, der sich, schön wie er war, mit freundlicher Miene erhob und die Diskussion wieder auf einen weit zurückliegenden Punkt brachte.
»Verzeihen Sie mir die Art dieser Frage«, sagte Sir Impey mit einer höflichen Verbeugung, »aber wollen Sie uns bitte sagen, ob Ihrer Ansicht nach der verstorbene Hauptmann Cathcart sehr in Sie verliebt war?«
»Nein, ich bin sogar sicher, daß er es nicht war; es war ein Arrangement zu unserem beiderseitigen Vorteil.«
»Soweit Sie ihn kannten, glauben Sie, daß er einer sehr tiefen Zuneigung fähig war?«
»Das halte ich für möglich - bei der richtigen Frau. Ich würde sagen, er war sehr leidenschaftlich veranlagt.«
»Danke. Sie haben uns erzählt, daß Sie Hauptmann Cathcart mehrere Male getroffen haben, als Sie letzten Februar in Paris waren. Erinnern Sie sich, mit ihm in ein Juweliergeschäft gegangen zu sein - zu Monsieur Briquet in der Rue de la Paix?«
»Kann sein; aber das weiß ich nicht sicher.«
»Das Datum, auf das ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte, ist der 6. Februar.«
»Ich weiß es nicht.«
»Erkennen Sie dieses Amulett?«
Damit wurde der Zeugin die grünäugige Katze übergeben.
»Nein; ich habe es nie gesehen.«
»Hat Hauptmann Cathcart Ihnen je etwas in der Art geschenkt?«
»Nein, nie.«
»Haben Sie je so ein Schmuckstück besessen?«
»Nein, da bin ich völlig sicher.«
»Meine Lords, ich darf diese Platinkatze mit Brillanten zu den Beweisstücken legen. Danke, Lady Mary.«
James Fleming, eingehend nach der Postzustellung befragt, blieb ausweichend und vergeßlich und hinterließ insgesamt beim Gericht den Eindruck, daß der Herzog überhaupt nie einen Brief bekommen habe. Sir Wigmore, der in seiner Eröffnungsrede schon düster auf Versuche angespielt hatte, den Charakter des Opfers anzuschwärzen, lächelte hämisch und überließ den Zeugen Sir Impey. Dieser begnügte sich damit, dem Zeugen das Zugeständnis zu entlocken, daß er sich mit Sicherheit weder so noch so erinnere, und ging dann sofort auf einen anderen Punkt über.
»Erinnern Sie sich, ob mit derselben Post noch Briefe für andere Mitglieder der Jagdgesellschaft gekommen sind?«
»Ja, ich habe drei oder vier Briefe ins Billardzimmer gebracht.«
»Können Sie sagen, an wen sie adressiert waren?«
»Ein paar waren für Oberst Marchbanks und einer für Hauptmann Cathcart.«
»Hat Hauptmann Cathcart seinen Brief an Ort und Stelle geöffnet?«
»Das weiß ich nicht, Sir. Ich habe das Zimmer sofort wieder verlassen, um die Post für Seine Gnaden ins Arbeitszimmer zu bringen.«
»Könnten Sie uns nun einmal erzählen, auf welche Weise die Post, die morgens fortgehen soll, im Jagdhaus eingesammelt wird?«
»Die Briefe werden in den Postsack geworfen, der verschlossen ist. Seine Gnaden hat einen Schlüssel, den anderen hat die Post. Die Briefe werden oben durch einen Schlitz gesteckt.«
»Wurden an dem Morgen nach Hauptmann Cathcarts Tod die Briefe wie gewöhnlich zur Post gebracht?«
»Ja, Sir.«
»Von wem?«
»Ich habe den Sack selbst hingebracht, Mylord.«
»Hatten Sie eine Gelegenheit, zu sehen, was für Briefe sich darin befanden?«
»Als die Postmeisterin den Sack leerte, habe ich gesehen, daß es mehrere Briefe waren, aber ich könnte nicht sagen, an wen sie adressiert waren oder sonst etwas.«
»Ich danke Ihnen.«
Hier sprang Sir Wigmore vom Stuhl auf wie ein sehr verärgerter Kastenteufel.
»Ist dies das erste Mal, daß Sie diesen Brief erwähnen, den Sie in der Mordnacht angeblich Hauptmann Cathcart ausgehändigt haben?«
»Meine Lords«, rief Sir Impey. »Ich erhebe Einspruch gegen diese Formulierung. Bisher liegt noch kein Beweis dafür vor, daß ein Mord begangen wurde.«
Dies war der erste Hinweis auf die Verteidigungsstrategie, die Sir Impey einzuschlagen gedachte, und er verursachte ein leises Raunen der Erregung.
»Meine Lords«, fuhr der Verteidiger auf eine Frage des Großhofmeisters fort, »ich stelle fest, daß bisher noch nicht versucht worden ist, den Tatbestand des Mordes zu beweisen, und daß ein solches Wort einem Zeugen nicht in den Mund gelegt werden darf, solange die Anklage den Tatbestand des Mordes nicht bewiesen hat.«
»Es wäre wohl besser, Sir Wigmore, wenn Sie einen anderen Ausdruck wählten.«
»Für unseren Fall hat dies keinerlei Bedeutung, Mylord. Ich beuge mich der Entscheidung Eurer Lordschaft. Der Himmel weiß, daß ich nie den Versuch machen würde, auch nicht durch das kleinste und unbedeutendste Wort, die Verteidigung bei so einer schwerwiegenden Anklage zu behindern.«
»Meine Lords«, rief Sir Impey dazwischen, »wenn der Herr Anklagevertreter das Wort >Mord< als unbedeutend bezeichnet, wäre es interessant zu wissen, welchen Worten er Bedeutung beimißt.«
»Der Herr Anklagevertreter hat sich bereit gefunden, das Wort durch ein anderes zu ersetzen«, sagte der Großhofmeister beschwichtigend und nickte Sir Wigmore zu, fortzufahren. Sir Impey, dem es somit gelungen war, dem Angriff des Anklagevertreters auf den Zeugen die ursprüngliche Wucht zu nehmen, setzte sich wieder, und Sir Wigmore wiederholte seine Frage.