»Ich habe ihn vor ungefähr drei Wochen zum erstenmal gegenüber Mr. Murbles erwähnt.«
»Mr. Murbles ist der juristische Vertreter des Angeklagten, nehme ich an?«
»Ja, Sir.«
»Und wie kommt es«, fragte Sir Wigmore grimmig, indem er den Kneifer auf seiner recht ansehnlichen Nase zurechtrückte und den Zeugen böse anfunkelte, »daß Sie den Brief nicht schon bei der Untersuchungsverhandlung oder in einem früheren Stadium der Untersuchung erwähnt haben?«
»Weil mich niemand danach gefragt hat, Sir.«
»Was hat Sie plötzlich zu dem Entschluß gebracht, Mr. Murbles davon zu erzählen?«
»Er hat mich gefragt, Sir.«
»So, er hat Sie gefragt; und Sie haben sich entgegenkommenderweise daran erinnert, als Ihnen dieser Gedanke nahegelegt wurde?«
»Nein, Sir. Ich habe mich die ganze Zeit daran erinnert. Das heißt, ich habe dem keine besondere Bedeutung beigemessen, Sir.«
»So, Sie haben sich die ganze Zeit daran erinnert, obwohl Sie ihm weiter keine Bedeutung beimaßen. Und jetzt sage ich Ihnen auf den Kopf zu, daß Sie sich überhaupt nie daran erinnert haben, bis es Ihnen von Mr. Murbles nahegelegt wurde.«
»Mr. Murbles hat mir nichts nahegelegt, Sir. Er hat mich gefragt, ob mit derselben Post noch weitere Briefe gekommen seien, und da ist es mir eingefallen.«
»Genau! Als es Ihnen nahegelegt wurde, haben Sie sich erinnert, vorher aber nicht.«
»Nein, Sir. Das heißt, wenn ich früher gefragt worden wäre, hätte ich mich auch früher daran erinnert und den Brief erwähnt, aber da ich nicht danach gefragt wurde, habe ich ihn nicht für wichtig gehalten, Sir.«
»Sie haben es also nicht für wichtig gehalten, daß dieser Mann wenige Stunden, bevor - vor seinem Tod - einen Brief erhielt?«
»Nein, Sir. Ich habe gedacht, wenn er wichtig gewesen wäre, hätte die Polizei mich danach gefragt, Sir.«
»Nun, James Fleming, ich halte Ihnen noch einmal vor, daß die Idee, Hauptmann Cathcart könne an dem Abend, bevor er starb, noch einen Brief erhalten haben, Ihnen nie gekommen ist, bevor sie Ihnen von der Verteidigung in den Kopf gesetzt wurde.«
Der Zeuge, verwirrt von diesem etwas umständlichen Satz, gab eine konfuse Antwort, und Sir Wigmore sah sich im Saal um, als wollte er sagen: »Na bitte, seht euch diesen unsicheren Kantonisten an.«
»Ich nehme an, daß Sie auch nicht auf den Gedanken gekommen sind, der Polizei etwas von den Briefen im Postsack zu sagen?«
»Nein, Sir.«
»Warum nicht?«
»Ich habe nicht geglaubt, daß mir dies zukommt, Sir.«
»Haben Sie überhaupt daran gedacht?«
»Nein, Sir.«
»Denken Sie überhaupt jemals?«
»Nein, Sir - ich meine, ja, Sir.«
»Dann denken Sie jetzt bitte gut darüber nach, was Sie sagen.«
»Ja, Sir.«
»Sie sagen, daß Sie diese ganzen wichtigen Briefe aus dem Haus getragen haben, ohne dazu ermächtigt gewesen zu sein und ohne die Polizei zu benachrichtigen?«
»Ich hatte meine Anweisungen, Sir.«
»Von wem?«
»Es war ein Befehl von Seiner Gnaden, Sir.«
»Ach! Ein Befehl von Seiner Gnaden. Wann haben Sie diesen Befehl bekommen?«
»Es gehörte zu meinen ständigen Pflichten, Sir, jeden Morgen den Sack zur Post zu bringen.«
»Und Sie sind nicht auf den Gedanken gekommen, daß in so einem Fall eine ordnungsgemäße Benachrichtigung der Polizei wichtiger sein könnte als die Befolgung Ihrer Anweisungen?«
»Nein, Sir.«
Sir Wigmore nahm mit angewiderter Miene wieder Platz, und Sir Impey übernahm den Zeugen.
»Ist Ihnen die Sache mit dem Brief, den Sie Mr. Cathcart ausgehändigt hatten, zwischen dem Todestag und dem Tag, an dem Mr. Murbles mit Ihnen darüber sprach, nie durch den Kopf gegangen?«
»Nun, durch den Kopf gegangen ist sie mir gewissermaßen schon, Sir.«
»Wann war das?«
»Vor der Geschworenenkammer, Sir.«
»Und warum haben Sie da nichts davon gesagt?«
»Der Herr dort hat gesagt, ich solle mich auf die Beantwortung der Fragen beschränken und nichts von mir aus sagen, Sir.«
»Wer war denn dieser sehr gebieterische Herr?«
»Der Vertreter der Anklage, Sir.«
»Danke«, sagte Sir Impey befriedigt, setzte sich und lehnte sich zu Mr. Glibbery hinüber, um ihm etwas offenbar sehr Erheiterndes mitzuteilen.
Der Frage nach dem Brief wurde im Verhör des Ehrenwerten Fred-dy weiter nachgegangen. Sir Wigmore Wrinching legte großes Gewicht auf die Versicherung des Zeugen, daß der Verstorbene am Mittwochabend beim Zubettgehen in ausgezeichneter Verfassung und bester Laune gewesen sei und von seiner bevorstehenden Heirat gesprochen habe.
»Er kam mir besonders heißa vor, wissen Sie«, sagte der Ehrenwerte Freddy.
»Besonders was?« erkundigte sich der Großhofmeister.
»Heißa, Mylord«, sagte Sir Wigmore mit einer spöttischen Verbeugung.
»Nun, ich weiß nicht, ob man dieses Wort so verwenden kann«, sagte Seine Lordschaft, indem er es mit besonderer Sorgfalt seinen Notizen einverleibte, »aber ich nehme an, es soll hier ein Synonym für heiter sein.«
Der um seine Zustimmung gebetene Ehrenwerte Freddy meinte, er habe wohl mehr als heiter damit ausdrücken wollen, mehr lustig und strahlend, nicht wahr?
»Können wir also annehmen, daß er vergnügten Geistes war?« riet der Verteidiger.
»Nehmen Sie welchen Geist Sie wollen«, murmelte der Zeuge und ergänzte noch eine Spur fröhlicher: »Nimm 'nen Klaren von John MacLaren.«
»Der Verstorbene war also ganz besonders fröhlich und guter Dinge, als er zu Bett ging«, sagte Sir Wigmore, die Stirn in furchtbare Falten gelegt, »und freute sich auf seine in naher Zukunft bevorstehende Heirat. Wäre das eine zutreffende Beschreibung seiner Verfassung?«
Der Ehrenwerte Freddy stimmte dem zu.
Sir Impey verzichtete auf ein Kreuzverhör des Zeugen hinsichtlich des Streites und kam gleich zur Sache.
»Haben Sie noch irgendeine Erinnerung an die Briefe, die am Abend seines Todes ankamen?«
»Ja; für mich war einer von meiner Tante dabei. Der Oberst kriegte ein paar, glaube ich, und einer war für Cathcart.«
»Hat Hauptmann Cathcart seinen Brief an Ort und Stelle gelesen?«
»Nein, das weiß ich genau. Sehen Sie, ich habe meinen geöffnet, und dann sah ich, wie er seinen in die Tasche steckte, und hab gedacht -«
»Was Sie gedacht haben, ist nicht wichtig«, sagte Sir Impey. »Was haben Sie getan?«
»Ich habe gesagt: Entschuldigung, stört Sie's?< Und er hat gesagt: >Nein, nicht im mindesten« Aber er hat seinen Brief noch immer nicht gelesen, und ich weiß noch, wie ich gedacht habe -«
»Wir können das hier nicht brauchen«, sagte der Großhofmeister.
»Aber daher weiß ich doch so genau, daß er ihn nicht geöffnet hat«, entgegnete der Ehrenwerte Freddy beleidigt. »Sehen Sie, ich hab mir damals nämlich gesagt, was ist der Kerl doch für ein Geheimniskrämer, und daher weiß ich das noch.«
Sir Wigmore, der schon mit geöffnetem Mund aufgesprungen war, setzte sich wieder.
»Danke sehr, Mr. Arbuthnot«, sagte Sir Impey lächelnd.
Oberst und Mrs. Marchbanks bestätigten, gegen halb zwölf etwas im Arbeitszimmer des Herzogs gehört zu haben. Einen Schuß oder sonstige Geräusche hätten sie nicht gehört. Sie wurden nicht ins Kreuzverhör genommen.
Mr. Pettigrew-Robinson wartete mit einer lebhaften Schilderung des Streits auf und versicherte sehr bestimmt, daß eine akustische Verwechslung der herzoglichen Schlafzimmertür ausgeschlossen sei.
»Wir wurden dann kurz nach drei Uhr von Mr. Arbuthnot geweckt«, fuhr der Zeuge fort, »und gingen in den Wintergarten hinunter, wo ich den Angeklagten und Mr. Arbuthnot das Gesicht des Verstorbenen waschen sah. Ich habe sie darauf hingewiesen, wie unklug das von ihnen sei, da sie damit wichtige Spuren für die Polizei vernichten könnten, aber sie haben sich nicht um mich gekümmert. Um die Tür herum befanden sich viele Fußspuren, die ich untersuchen wollte, weil nach meiner Theorie -«