»Meine Lords«, rief Sir Impey, »wir können den Zeugen hier keine Theorien entwickeln lassen.«
»Gewiß nicht!« sagte der Großhofmeister. »Beantworten Sie die Fragen, die Ihnen gestellt werden, und fügen Sie von sich aus nichts hinzu.«
»Sehr wohl«, sagte Mr. Pettigrew-Robinson. »Ich wollte damit auch nicht sagen, daß daran etwas faul gewesen sei, aber ich hatte mir gedacht -«
»Behalten Sie bitte für sich, was Sie gedacht haben. Hören Sie mir zu. Als Sie den Toten sahen, wie lag er da?«
»Auf dem Rücken, und Denver und Arbuthnot wuschen ihm das Gesicht. Er war offensichtlich umgedreht worden, denn -« »Sir Wigmore«, unterbrach der Großhofmeister, »Sie müssen Ihren Zeugen bei der Sache halten.«
»Beschränken Sie sich freundlicherweise auf das, was Sie gesehen haben«, sagte Sir Wigmore leicht erhitzt. »Ihre Schlußfolgerungen interessieren uns nicht. Sie sagen, als Sie den Toten sahen, lag er auf dem Rücken. Ist das richtig?«
»Und Denver und Arbuthnot wuschen ihn.«
»Ja. Und jetzt möchte ich auf etwas anderes zu sprechen kommen. Erinnern Sie sich an einen Lunch im Königlichen Automobilclub?«
»Ja. Ich war dort Mitte August einmal zum Lunch - es muß, soviel ich weiß, der sechzehnte oder siebzehnte gewesen sein.«
»Wollen Sie uns bitte erzählen, was da geschah?«
»Ich war nach dem Lunch in den Rauchsalon gegangen und saß dort in einem hochlehnigen Sessel und las, als ich den Angeklagten mit dem seligen Hauptmann Cathcart hereinkommen sah. Das heißt, ich sah sie in dem großen Spiegel über dem Kaminsims. Sie selbst merkten nicht, daß jemand im Salon war, sonst wären sie wohl mit dem, was sie sagten, etwas vorsichtiger gewesen. Sie nahmen in meiner Nähe Platz und begannen sich zu unterhalten, und nach einiger Zeit lehnte Cathcart sich zum Herzog hinüber und sagte leise etwas, was ich nicht verstehen konnte. Daraufhin sprang der Angeklagte mit entsetztem Gesicht auf und rief: >Um Gottes willen, Cathcart, verrate mich bloß nicht - ich hätte die Hölle auf Erden« Cathcart antwortete etwas in besänftigendem Ton -ich konnte nicht hören, was er sagte, er hatte so eine heimlichtuerische Stimme -, und der Angeklagte sagte darauf: >Also, laß das jedenfalls. Ich kann mir nicht leisten, daß jemand davon erfährt.« Der Angeklagte wirkte sehr erschrocken. Hauptmann Cathcart lachte. Dann sprachen sie leise weiter, und ich habe sonst nichts gehört.«
»Danke.«
Sir Impey übernahm den Zeugen mit mephistophelischer Höflichkeit.
»Sie sind ein Mann mit ausgezeichneten Beobachtungs- und Kombinationsgaben, Mr. Pettigrew-Robinson«, begann er, »und zweifellos machen Sie bei der Beurteilung der Charaktereigenschaften und Motive anderer Menschen gern von Ihrer einfühlsamen Vorstellungskraft Gebrauch?«
»Ich glaube, ich kann mich als Kenner der menschlichen Natur bezeichnen«, antwortete Mr. Pettigrew-Robinson sehr besänftigt.
»Man zieht Sie sicherlich gern ins Vertrauen?«
»Gewiß. Ich darf mich als einen Mann bezeichnen, dem sehr viel Menschliches zu Ohren kommt.«
»In der Nacht, als Hauptmann Cathcart starb, war Ihre große Welterfahrung für die Familie sicher Trost und Hilfe?«
»Sie hat sich meine Erfahrungen leider nicht zunutze gemacht, Sir«, sagte Mr. Pettigrew-Robinson, und plötzlich brach es aus ihm heraus: »Man hat mich völlig ignoriert! Wenn man doch damals nur auf meinen Rat gehört hätte -«
»Danke, vielen Dank«, sagte Sir Impey, um einem erregten Zwischenruf des Anklägers zuvorzukommen, der daraufhin aufstand und fragte:
»Wenn Hauptmann Cathcart irgendein Geheimnis oder irgendwelche Sorgen im Leben gehabt hätte, würden Sie von ihm erwartet haben, daß er sie Ihnen anvertraute?«
»Das würde ich von jedem rechtschaffenen jungen Mann ganz gewiß erwarten«, sagte Mr. Pettigrew-Robinson großmäulig, »aber Hauptmann Cathcart war ein unangenehm verschlossener Mensch. Das einzige Mal, als ich ein freundliches Interesse an seinen Angelegenheiten zeigte, war er sehr ungezogen. Er nannte mich -«
»Das genügt«, unterbrach Sir Wigmore ihn hastig, als er sah, daß die Beantwortung seiner Frage nicht so ausfiel wie erwartet. »Wie der Verstorbene Sie genannt hat, ist unerheblich.«
Mr. Pettigrew-Robinson trat ab und hinterließ den Eindruck eines schwer Gekränkten - ein Eindruck, der die Herren Glibbery und Brownrigg-Fortescue so zu freuen schien, daß sie während des Verhörs der nächsten beiden Zeugen unablässig still in sich hineinlachten.
Mrs. Pettigrew-Robinson hatte ihrer Aussage bei der Untersuchungsverhandlung wenig hinzuzufügen. Miss Cathcart wurde von Sir Impey nach Cathcarts Elternhaus gefragt und erklärte mit hörbarer Mißbilligung in der Stimme, daß ihr Bruder, obwohl schon in den besten Jahren und ein sehr erfahrener Mann von Welt, sich von einer neunzehnjährigen italienischen Sängerin habe »einwickeln« lassen, sie zu heiraten. Achtzehn Jahre später seien beide Eltern gestorben. »Kein Wunder«, sagte Miss Cathcart, »bei dem Lebenswandel, den sie führten«, und der Junge sei in ihre Obhut gegeben worden. Sie erklärte, wie Denis sich ihrem Einfluß immer entzogen und mit Männern Umgang gepflogen habe, von denen sie nichts gehalten habe, und schließlich sei er nach Paris gegangen, um auf eigene Faust eine diplomatische Laufbahn zu beginnen. Seitdem habe sie kaum etwas von ihm gesehen.
Ein interessanter Punkt kam beim Kreuzverhör Inspektor Craikes' zur Sprache. Ein Taschenmesser wurde ihm gezeigt, und er identifizierte es als dasjenige, das er bei Cathcart gefunden hatte.
Frage von Mr. Glibbery: »Fällt Ihnen an der Klinge irgend etwas auf?«
»Ja, in der Nähe des Griffs ist eine kleine Kerbe.«
»Könnte die Kerbe daher stammen, daß versucht wurde, mit diesem Taschenmesser eine Fensterverriegelung gewaltsam zu öffnen?«
Inspektor Craikes räumte ein, daß dies der Fall sein könne, zweifelte aber, ob ein so kleines Messer für diesen Zweck geeignet sei.
Dann wurde der Revolver vorgelegt und die Frage nach dem Eigentümer gestellt.
»Meine Lords«, sagte Sir Impey, »wir bestreiten nicht, daß der Revolver dem Herzog gehört.«
Die Richter machten erstaunte Gesichter, und nachdem Hardraw, der Wildhüter, zu dem Schuß gehört worden war, den er um zehn vor zwölf gehört hatte, kam das ärztliche Gutachten an die Reihe.
Sir Impey Biggs: »Könnte der Verstorbene sich die Wunde selbst beigebracht haben?«
»Das wäre gewiß möglich.«
»Wäre die Wunde sofort tödlich gewesen?«
»Nein. Aus der Menge Blut zu schließen, die auf dem Pfad gefunden wurde, war sie offensichtlich nicht sofort tödlich.«
»Lassen sich die gefundenen Spuren Ihrer Ansicht nach mit der Möglichkeit in Einklang bringen, daß der Verstorbene sich noch zum Haus geschleppt hat?«
»Ja. Dazu hätte er durchaus noch die Kraft haben können.«
»Könnte eine solche Wunde Fieber hervorrufen?«
»Das ist ohne weiteres denkbar. Er könnte für einige Zeit das Bewußtsein verloren haben und sich durch das Herumliegen in der Nässe eine Erkältung und Fieber zugezogen haben.«
»Lassen die äußeren Anzeichen die Möglichkeit zu, daß er noch einige Stunden nach seiner Verwundung gelebt hat?«
»Sie sprechen sogar sehr für diese Möglichkeit.«
Bei nochmaliger Befragung stellte Sir Wigmore heraus, daß die Wunde und die äußeren Anzeichen ebenfalls mit der Theorie in Einklang zu bringen seien, daß der Schuß aus nächster Nähe von jemand anderem abgegeben und der Verstorbene zum Haus geschleppt worden sei, bevor sein Leben verlosch.
»Schießen Selbstmörder sich nach Ihrer Erfahrung öfter in den Kopf oder in die Brust?«