Kitiaras Lippen verzogen sich verächtlich. »Du sorgst dich also wirklich allein um sie?« flüsterte sie zynisch.
»Wirklich«, erwiderte Tanis. Als er ihren Arm fester packte, sah er Schmerz in ihren Augen. »Ich schwöre dies bei den Seelen von zwei Freunden, die ich von ganzem Herzen geliebt habe – Sturm Feuerklinge und Flint Feuerschmied. Glaubst du mir jetzt?«
»Ich glaube dir«, sagte Kitiara mit Wut und Bitterkeit. Sie sah zu ihm hoch, widerstrebende Bewunderung flackerte wieder in ihren Augen auf. »Du hättest so viel haben können...«
Tanis löste wortlos seinen Griff. Er drehte sich um und ging zu Laurana, die mit dem Rücken zu ihnen stand und wie blind in die Menge starrte. Tanis faßte sie am Arm. »Komm mit mir«, befahl er kühl. Der Lärm der Menge wurde lauter, während er sich der Gegenwart der Dunklen Königin bewußt war, die den Machtwechsel aufmerksam beobachtet hatte, neugierig, wer sich als der Stärkere erweisen würde.
Laurana zuckte bei seiner Berührung nicht zurück. Sie reagierte überhaupt nicht. Sie bewegte nur langsam ihren Kopf, ihr honigblondes Haar fiel über ihre Schultern, und sah ihn an. Die grünen Augen erkannten ihn nicht, waren ausdruckslos. Er sah nichts in ihnen, keine Angst, keinen Zorn.
Es wird alles gut werden, tröstete er sie stumm, sein Herz schmerzte. Ich werde erklären...
Silber blitzte auf... goldenes Haar... Etwas schlug Tanis hart gegen die Brust. Er taumelte zurück, griff stolpernd nach Laurana. Aber er konnte sie nicht halten.
Laurana schob ihn beiseite und sprang Kitiara an, ihre Hand griff nach dem Schwert, das Kit an ihrer Seite trug. Ihre Bewegung kam für die menschliche Frau völlig überraschend. Kitiara kämpfte kurz und heftig, aber Laurana hatte bereits ihre Hände am Knauf. Mit einer schwungvollen Bewegung riß sie Kits Schwert aus der Scheide und schlug den Knauf in das Gesicht der Frau, so daß sie niederstürzte. Dann drehte Laurana sich um und lief zum Rand der Plattform.
»Laurana, halt!« schrie Tanis. Er sprang vor, um sie zu fassen, als er plötzlich die Spitze ihres Schwertes an seiner Kehle spürte.
»Beweg dich nicht, Tanthalasa«, befahl Laurana. Ihre grünen Augen waren vor Aufregung geweitet, sie hielt die Schwertspitze unbeweglich an seiner Haut. »Oder du stirbst. Ich töte dich, wenn es sein muß.«
Tanis trat einen Schritt nach vorn. Die scharfe Klinge drang in seine Haut. Hilflos blieb er stehen. Laurana lächelte traurig.
»Siehst du, Tanis? Ich bin nicht das liebeskranke Kind, das du kanntest. Ich bin nicht die Tochter meines Vaters, die am Hofe lebt. Ich bin nicht einmal der Goldene General. Ich bin Laurana. Und ich werde leben oder sterben, aber so, wie ich will, und ohne deine Hilfe.«
»Laurana, hör mir zu!« bat Tanis und streckte seine Hand aus, um die Klinge von seiner Kehle wegzuschieben.Er sah, wie Laurana ihre Lippen fest zusammenpreßte, ihre grünen Augen glänzten. Dann seufzte sie und senkte langsam die Klinge zu seiner gepanzerten Brust. Tanis lächelte. Laurana zuckte mit den Schultern, und mit einer schnellen Bewegung schubste sie ihn nach hinten über die Plattform.
Wild um sich schlagend stürzte der Halb-Elf auf den Marmorboden. Als er fiel, sah er Laurana mit dem Schwert ihm nachspringen und mühelos auf ihren Füßen aufkommen.
Er prallte so hart auf dem Boden auf, daß es ihm fast den Atem nahm. Die Krone der Macht rollte klappernd von seinem Kopf und rutschte über den polierten Marmor. Über sich hörte er Kitiara vor Wut kreischen.
»Laurana!« Er keuchte, hatte keinen Atem zum Schreien, sah sich suchend nach ihr um. Etwas Silbernes blitzte auf...
»Die Krone! Bringt mir die Krone!« Kitiaras Stimme dröhnte in seinen Ohren.
Aber sie war nicht die einzige, die schrie. Überall in der Empfangshalle waren die Fürsten auf den Beinen und kommandierten ihre Soldaten. Die Drachen schwangen sich in die Luft. Die fünfköpfige Gestalt der Dunklen Königin erfüllte die Halle mit ihrem Schatten, sie jubelte über diesen Machtkampf, aus dem ihr stärkster Kommandant hervorgehen würde – der Überlebende.
Die Klauenfüße der Drakonier, die gestiefelten Füße der Goblins, die stahlbeschuhten Füße der Menschen trampelten über Tanis. Mühsam quälte er sich ab, auf die Beine zu kommen, kämpfte verzweifelt, nicht zerquetscht zu werden, und versuchte, das aufblitzende Silber nicht aus den Augen zu verlieren. Er sah es einmal, dann war es verloren, untergegangen in dem Getümmel. Ein verzerrtes Gesicht erschien vor ihm, dunkle Augen blitzten auf. Ein Speerende prallte in seine Seite.
Stöhnend brach Tanis auf dem Boden zusammen, während das Chaos in der Empfangshalle ausbrach.
11
Jasla ruft...
Raistlin! Es war ein Gedanke, kein ausgesprochenes Wort. Caramon versuchte zu sprechen, aber aus seiner Kehle kam kein Laut.
»Ja, mein Bruder«, sagte Raistlin wie gewöhnlich in Antwort auf die Gedanken seines Bruders. »Ich bin es – der letzte Wächter, derjenige, an dem du vorbei mußt, um dein Ziel zu erreichen, derjenige, dem Ihre Dunkle Majestät befohlen hat, anwesend zu sein, wenn die Hörner erschallen.« Raistlin lächelte spöttisch. »Und ich hätte wissen müssen, daß du es sein wirst, der wie ein Tor in meine Zauberfalle tritt...«
»Raist«, begann Caramon und würgte.
Einen Moment lang konnte er nicht sprechen. Erschöpft durch Furcht, Schmerz und Blutverlust, zitternd im kalten Wasser stehend – Caramon konnte dies nicht mehr ertragen. Es wäre einfacher, im dunklen Wasser zu versinken und von den scharfen Zähnen des jungen Drachen zerrissen zu werden. Jener Schmerz konnte nicht viel schlimmer sein. Dann spürte er, wie sich Berem an seiner Seite bewegte. Der Mann starrte Raistlin verwirrt an, verstand nicht. Er zog Caramon am Ärmel.
»Jasla ruft. Wir müssen gehen.«
Mit einem Schluchzen befreite Caramon seinen Arm aus dem Griff des Mannes. Berem starrte ihn wütend an, dann drehte er sich um und wollte allein weitergehen.
»Nein, mein Freund, niemand geht irgendwohin.«
Raistlin hob seine magere Hand, und Berem verhielt plötzlich taumelnd. Er hob seinen Blick zu den glänzenden goldenen Augen des Magiers, der über ihm auf einem Felsvorsprung stand. Wimmernd, die Hände ringend, starrte Berem sehnsüchtig auf die mit Juwelen besetzte Säule. Aber er konnte sich nicht bewegen. Eine große und furchtbare Macht versperrte seinen Weg, die so wirklich war wie der Magier auf dem Fels.
Caramon blinzelte seine Tränen weg. Er spürte die Macht seines Bruders, er kämpfte gegen die Verzweiflung an. Er konnte nichts ausrichten... außer zu versuchen, Raistlin zu töten.
Seine Seele zog sich vor Entsetzen zusammen. Nein, lieber würde er sterben!
Plötzlich hob Caramon den Kopf. So soll es sein. Wenn ich sterben muß, dann kämpfend – so wie ich es immer wollte. Selbst wenn es bedeutet, durch die Hand meines eigenen Bruders zu sterben.
Langsam erwiderte Caramon den Blick seines Bruders.
»Du trägst jetzt die Schwarze Robe?« fragte er mit spröden Lippen. »Ich kann nichts sehen... in diesem Licht...«
»Ja, mein Bruder«, erwiderte Raistlin und hob den Stab des Magus, damit das silberne Licht ihn beleuchtete. Eine Robe von weichstem Samt fiel über seine dünnen Schultern, schimmerte schwarz im Licht, wirkte schwärzer als die ewige Nacht, die sie umgab.
Caramon fuhr fort, obwohl er innerlich erzitterte. »Und deine Stimme, sie ist kräftiger, anders. Wie deine... und doch nicht wie deine...«
»Das ist eine lange Geschichte, Caramon«, erwiderte Raistlin. »Im Lauf der Zeit wirst du sie vielleicht erfahren. Aber jetzt befindest du dich in einer üblen Situation, mein Bruder. Die Drakonierwachen kommen. Sie haben den Befehl, Berem zu fangen und zur Dunklen Königin zu bringen. Das wird sein Ende sein. Er ist nicht unsterblich, das versichere ich dir. Sie verfugt über Zaubersprüche, die seinen Körper zerfallen lassen und nicht mehr von ihm übrig lassen als dünne Fäden von Fleisch und Seele, die vom Wind davongetragen werden. Dann wird sie seine Schwester verschlingen, und dann, endlich, wird die Dunkle Königin frei sein, um Krynn in ihrer vollen Macht und Herrlichkeit zu betreten. Sie wird die Welt beherrschen und alle Bereiche des Himmels und der Hölle. Nichts wird sie aufhalten.«