Caramon holte tief Luft und tat, wie ihm gesagt wurde. Er hatte einen Teil seiner Kraft wiedergewonnen und war jetzt in der Lage, ohne Hilfe seines Bruders zu laufen. Die Drakonier ignorierend, die sie nur einmal ansahen und dann weiterflitzten, schritten die beiden Brüder den Korridor entlang. Hier veränderten die Wände immer noch ihre Form, die Decke erbebte, und der Boden hob sich. Hinter sich hörten sie schauerliche Schreie von den Gefangenen, die um ihre Freiheit kämpften.
»Zumindest wird niemand diese Tür bewachen«, sagte Raistlin nach vorn zeigend.
»Was meinst du?« fragte Caramon, der anhielt und seinen Bruder beunruhigt anstarrte.
»Sie ist mit einer Falle versehen«, flüsterte Raistlin. »Erinnerst du dich nicht an den Traum?«
Caramon wurde leichenblaß und stob durch den Korridor auf die Tür zu. Kopfschüttelnd folgte Raistlin langsamer. Als er um die Ecke bog, fand er seinen Bruder auf dem Boden kauernd neben zwei Körpern vor.
»Tika!« stöhnte Caramon. Er strich ihre roten Locken aus dem bewegungslosen bleichen Gesicht, fühlte ihren Puls am Hals. Seine Augen schlossen sich einen Moment vor Dankbarkeit, dann bewegten sich seine Hände zum Kender. »Und Tolpan... Nein!«
Der Kender öffnete beim Hören seines Namens langsam seine Augen, als ob die Lider zu schwer wären.
»Caramon...«, sagte Tolpan flüsternd mit tonloser Stimme.
»Es tut mir so leid...«
»Tolpan!« Caramon nahm den kleinen, fiebrigen Körpersanft in seine starken Arme. Er hielt ihn eng an sich gedrückt und wiegte ihn hin und her. »Psst, Tolpan, sag nichts.«
Der Körper des Kenders zuckte krampfhaft. Als Caramon sich verzweifelt umschaute, sah er Tolpans Beutel auf dem Boden liegen, ihr Inhalt wie Spielsachen in einem Kinderzimmer verstreut. Tränen traten in Caramons Augen.
»Ich habe versucht, sie zu retten...«, flüsterte Tolpan, vor Schmerzen erschauernd, »aber ich konnte nicht...«
»Du hast sie gerettet, Tolpan!« sagte Caramon würgend. »Sie ist nicht tot. Nur verletzt. Sie wird wieder in Ordnung kommen.«
»Wirklich?« Tolpans fiebrig glänzende Augen leuchteten in einem ruhigeren Licht auf, dann verdunkelten sie sich. »Leider... leider bin ich nicht in Ordnung, Caramon. Aber... aber es ist schon gut so, wirklich. Ich... ich werde Flint besuchen. Er wartet auf mich. Er hätte sowieso nicht alleine dorthin gehen sollen. Ich weiß nicht, warum... Ohne mich kommt er bestimmt nicht zurecht...«
»Was ist mit ihm?« fragte Caramon seinen Bruder, nachdem sich Raistlin schnell über den Kender gebeugt hatte, dessen Stimme in ein wirres Gebrabbel überging.
»Gift«, antwortete Raistlin, seine Augen wanderten zu der goldenen Nadel, die im Fackellicht glänzte. Er langte nach der Tür und stieß dagegen. Das Schloß gab nach, und die Tür öffnete sich einen Spalt weit.
Von draußen konnten sie das Kreischen und Schreien hören, als die Soldaten und Sklaven von Neraka dem sterbenden Tempel entflohen. Der Himmel dröhnte vom Gebrüll der Drachen.
Die Fürsten kämpften gegeneinander um die Macht in dieser neuen Welt. Raistlin lächelte beim Zuhören.
Seine Gedanken wurden durch eine Hand, die seinen Arm umklammerte, unterbrochen.
»Kannst du ihm helfen?« fragte Caramon.
»Mit ihm ist es bald vorbei«, sagte der Magier kühl. »Es würde ein Gutteil meiner Kraft kosten, und wir sind noch nicht aus der Gefahr, mein Bruder.«»Aber du kannst ihn retten?« fragte Caramon hartnäckig.
»Du bist mächtig genug?«
»Natürlich«, erwiderte Raistlin achselzuckend.
Tika bewegte sich und richtete sich auf, ihren schmerzenden Kopf haltend. »Caramon«, rief sie glücklich, dann fiel ihr Blick auf Tolpan. »O nein...«, flüsterte sie. Ihren Schmerz vergessend, legte sie ihre blutverkrustete Hand auf die Stirn des Kenders. Die Augen des Kenders flackerten bei ihrer Berührung auf, aber er erkannte sie nicht. Er schrie vor Qualen.
Durch seine Schreie hörten sie die Geräusche von Klauenfüßen, die in den Korridor liefen.
Raistlin sah seinen Bruder an. Er sah, wie er Tolpan in seinen großen Händen hielt, die so sanft sein konnten.
Genauso hat er mich auch gehalten, dachte Raistlin. Seine Augen wanderten zum Kender. Lebhafte Erinnerungen an die guten alten Tage kamen ihm: Die sorglosen Abenteuer mit Flint... nun tot; Sturm, tot; Tage im warmen Sonnenschein, die grünen Äste mit Knospen an den Vallenholzbäumen in Solace... Nächte im Wirtshaus zur letzten Bleibe... jetzt eine geschwärzte Ruine, die Vallenholzbäume verbrannt und zerstört.
»Das wird meine letzte Schuld sein«, sagte Raistlin. »In voller Höhe beglichen.« Den dankbaren Ausdruck in Caramons Gesicht ignorierend, befahl er: »Leg ihn hin. Du mußt dich um die Drakonier kümmern. Dieser Zauber wird meine ganze Konzentration in Anspruch nehmen. Sie dürfen mich nicht stören.«
Sanft legte Caramon Tolpan vor Raistlin auf den Boden. Die Augen des Kenders waren starr, sein Körper versteifte sich in krampfhaften Zuckungen. Sein Atem rasselte durch die Kehle.
»Vergiß nicht, mein Bruder«, sagte Raistlin kühl, als er in eine seiner vielen Geheimtaschen in der schwarzen Robe griff, »du trägst die Uniform eines Offiziers der Drachenarmee. Sei diplomatisch, wenn möglich.«
»Richtig.« Caramon warf Tolpan einen letzten Blick zu, dann holte er tief Luft. »Tika«, sagte er, »bleib still liegen. Tu so, als warst du ohnmächtig...«Tika nickte. Sie legte sich wieder hin und schloß gehorsam die Augen. Raistlin hörte Caramon den Korridor hinuntergehen, er hörte die laute, dröhnende Stimme seines Bruders, dann vergaß der Magier seinen Bruder, vergaß die Drakonier, vergaß alles, als er sich auf seine Magie konzentrierte.
Raistlin zog eine leuchtende, weiße Perle aus einer Innentasche hervor und hielt sie in seiner Hand, während er aus einer anderen ein graugrünes Blatt nahm. Er öffnete die verkrampften Kiefer des Kenders und legte das Blatt unter Tolpans geschwollene Zunge. Der Magier musterte einen Moment die Perle, rief sich die verschlungenen Sätze des Zaubers ins Gedächtnis zurück, wiederholte sie im Geiste, bis er sich der richtigen Reihenfolge und Aussprache jedes Wortes sicher war. Er würde eine Gelegenheit haben, und nur eine Gelegenheit.
Wenn er versagte, würde nicht nur der Kender sterben, sondern mit großer Sicherheit auch er selbst.
Nachdem er die Perle erst an seine Brust, dann an sein Herz geführt hatte, schloß er seine Augen und begann den Zauberspruch sechsmal hintereinander aufzusagen. Mit einem prikkelnden Gefühl der Ekstase spürte er die Magie durch seinen Körper strömen, die einen Teil seiner eigenen Kraft entzog und in der Perle konzentrierte.
Nun war der erste Teil des Zaubers abgeschlossen, und er hielt die Perle über das Herz des Kenders. Wieder schloß er seine Augen und wiederholte den Zauber, doch diesmal rückwärts. Langsam zermalmte er die Perle in seiner Hand und streute das leuchtende Pulver auf Tolpans starren Körper.
Raistlin war fertig. Erschöpft öffnete er seine Augen und beobachtete triumphierend, wie die Leichenblässe aus dem Gesicht des Kenders schwand und durch einen friedlichen Ausdruck ersetzt wurde.
Tolpans Augen sprangen auf.
»Raistlin! Ich... bah!« Tolpan spuckte das grüne Blatt aus.
»Iiih! Was war das denn für ein ekelhaftes Zeug? Und wie ist das überhaupt in meinen Mund gekommen?« Tolpan richtete sich benommen auf, dann sah er seine Beutel. »He! Wer hatmeine Sachen durchwühlt?« Er sah anklagend zum Magier hoch, dann riß er seine Augen auf. »Raistlin! Du trägst die Schwarze Robe! Wie wunderbar! Darf ich sie berühren? Oh, ist ja schon gut. Du brauchst mich gar nicht so anzufunkeln! Sie sieht nur so weich aus. Sag mal, bedeutet das, daß du nun wirklich schlecht bist? Kannst du etwas Böses für mich zaubern, nur so zum Zugucken. Ich weiß Bescheid! Ich hab' mal gesehen, wie ein Zauberer einen Dämon gerufen hat. Könntest du das für mich tun? Nur einen kleinen Dämon? Du kannst ihn ja dann sofort wieder zurückschicken! Nein?« Tolpan seufzte enttäuscht auf. »Nun... He, Caramon, was stellen diese Drakonier mit dir an? Und was ist mit Tika los? Oh, Caramon, ich...«