»Halt's Maul!« brüllte Caramon. Den Kender wütend anstarrend, zeigte er auf ihn und Tika. »Der Magier und ich wollten diese Gefangenen unserem Fürsten bringen, als sie sich gegen uns gewendet haben. Es sind wertvolle Sklaven, insbesondere das Mädchen. Und der Kender ist ein gerissener Dieb. Wir wollen sie nicht verlieren. Auf dem Markt in Sanction bringen sie einen hohen Preis. Da die dunkle Königin nicht mehr da ist, muß jeder für sich selbst sorgen, oder?«
Caramon stieß einen Drakonier in die Rippen. Die Kreatur knurrte zustimmend auf, seine schwarzen Reptilienaugen waren gierig auf Tika gerichtet.
»Dieb!« schrie Tolpan beleidigt, seine schrille Stimme scholl durch den Korridor. »Ich bin...« Er schluckte und verstummte plötzlich, als die angeblich ohnmächtige Tika ihm einen sanften Rippenstoß versetzte.
»Ich helfe dem Mädchen«, sagte Caramon, während er den lüsternen Drakonier finster ansah. »Du behältst den Kender im Auge, und ihr da drüben helft dem Magier. Durch seine Zauberei ist er völlig erschöpft.«
Ein Drakonier verbeugte sich respektvoll vor Raistlin und half ihm dann auf die Füße. »Ihr zwei«, befahl Caramon den restlichen Soldaten, »geht vor uns und seht zu, daß wir keine Schwierigkeiten auf dem Weg zum Stadtrand bekommen. Vielleicht könnt ihr mit uns nach Sanction gehen«, fuhr Caramon fort, während er Tika hochzog. Sie schüttelte benommen ihren Kopf, tat so, als würde sie gerade wieder das Bewußtsein erlangen.
Die Drakonier grinsten zustimmend, während einer von ihnen Tolpan am Kragen packte und ihn zur Tür schob.
»Aber meine Sachen!« jammerte Tolpan.
»Geh weiter!« donnerte Caramon.
»Na gut«, seufzte der Kender, seine Augen hingen zärtlich an seinen kostbaren Besitztümern, die auf dem blutverschmierten Boden verstreut lagen. »Das ist wahrscheinlich nicht das Ende meines Abenteuers. Und – wie dem auch sei – in leere Taschen paßt mehr rein, wie meine Mutter zu sagen pflegte.«
Als Tolpan hinter zwei Drakoniern herstolperte, sah er in den sternenklaren Himmel. »Es tut mir leid, Flint«, sagte er leise. »Jetzt mußt du doch noch ein bißchen länger auf mich warten.«
13
Kitiara
Als Tanis die Vorkammer betrat, war die Veränderung so verblüffend, daß sie ihm eine Minute lang völlig unverständlich blieb. Nur einen Moment zuvor hatte er sich abquälen müssen, um inmitten des Mobs auf den Füßen zu bleiben, und jetzt befand er sich in einem kühlen dunklen Raum, ähnlich dem, wo er und Kitiara und ihre Soldaten auf ihren Einzug in die Empfangshalle gewartet hatten.
Er sah sich schnell um; er war allein. Obwohl sein Instinkt ihn drängte, in seiner verzweifelten Suche aus dem Zimmer zu stürzen, zwang er sich, stehenzubleiben, Atem zu holen und das Blut aus den Augen zu wischen. Er versuchte sich zu erinnern, wo der Eingang zum Tempel war. Die Vorkammern, die in einem Kreis um die Empfangshalle angeordnet waren, waren mit dem vorderen Teil des Tempels durch eine Reihe sich windender Korridore verbunden. Einst, vor langer Zeit in Istar, mußten diese Korridore eine logische Ordnung gebildet haben.
Aber die Formveränderung des Tempels hatte sie zu einem Labyrinth verzerrt, dem man nicht entrinnen konnte. Korridore hörten abrupt auf, wenn er erwartete, daß sie weiterführten, während jene, die kurz zu sein schienen, ewig weitergingen.
Der Boden unter seinen Füßen gab nach, während Staub von der Decke wirbelte. Ein Gemälde fiel krachend von der Wand.
Tanis hatte keine Vorstellung, wo er Laurana finden konnte. Er hatte nur gesehen, daß sie hierher verschwunden war.
Sie war in dem Tempel eingesperrt gewesen, aber im unterirdischen Bereich. Er fragte sich, ob sie überhaupt ihre Umgebung erkannt hatte, als man sie hierher gebracht hatte, ob sie eine Vorstellung davon hatte, wie man wieder herauskam. Und dann stellte Tanis fest, daß er selbst nur eine verschwommene Vorstellung davon hatte, wo er sich befand. Er fand eine brennende Fackel, ergriff sie und beleuchtete das Zimmer. Eine mit Tapeten verkleidete Tür, nur an einem zerbrochenen Scharnier hängend, war leicht geöffnet. Er spähte hinein und sah, daß sie zu einem schwach beleuchteten Korridor führte.
Tanis hielt den Atem an. Er wußte nun, wo er Laurana finden konnte!
Eine Brise wehte durch den Gang – frische Luft, prickelnd von den Düften des Frühlings, kühl durch den gesegneten Frieden der Nacht – und berührte seine linke Wange. Laurana mußte diese Brise gespürt und vermutet haben, daß der Korridor aus dem Tempel führte. Schnell lief Tanis weiter, ignorierte den Schmerz in seinem Kopf, zwang seine erschöpften Muskeln, seinem Willen zu gehorchen.
Eine Gruppe Drakonier tauchte plötzlich aus einem Zimmer kommend vor ihm auf. Tanis fiel ein, daß er immer noch die Uniform der Drachenarmee trug, und hielt sie an.»Die Elfenfrau!« schrie er. »Sie darf nicht entkommen. Habt ihr sie gesehen?«
Sie hatten sie offenbar nicht gesehen, wie man ihrem hastigen Knurren entnehmen konnte. Auch die nächste Gruppe, auf die Tanis stieß, war ihr nicht begegnet. Aber zwei Drakonier, die nach Beute suchend durch die Hallen wanderten, hatten sie gesehen. Sie zeigten in die Richtung, auf die Tanis bereits zusteuerte. Sein Mut stieg.
Inzwischen hatten die Kämpfe in der Halle geendet. Die überlebenden Drachenfürsten waren entkommen und befanden sich nun mit ihren Soldaten außerhalb der Tempelmauern.
Einige kämpften, andere zogen sich zurück und warteten ab, wer als Sieger hervorgehen würde. Zwei Fragen beschäftigten alle. Die erste war, ob die Drachen bleiben oder mit ihrer Königin verschwinden würden, so wie es im Zweiten Drachenkrieg der Fall gewesen war. Und zweitens, falls die Drachen blieben, wer würde dann ihr Herr sein?
Tanis brütete selbst über diese Fragen, während er durch die Korridore lief, manchmal um die falsche Ecke bog und bitter fluchte, wenn er einer festen Mauer gegenüberstand und gezwungen war, wieder zurückzulaufen bis er wieder die frische Luft riechen konnte.
Aber schließlich wurde er zu müde, um überhaupt über etwas nachzudenken. Erschöpfung und Schmerzen forderten ihren Tribut. Seine Beine wurden schwer, jeder Schritt wurde zur Qual. Sein Kopf hämmerte, die Wunde über seinem Auge begann wieder zu bluten. Der Boden erzitterte ständig unter seinen Füßen. Statuen stürzten von ihren Sockeln. Steine fielen von der Decke und hüllten ihn in Staubwolken ein.
Langsam verlor er die Hoffnung. Obwohl er sich sicher war, daß er die einzige Richtung eingeschlagen hatte, die sie genommen haben konnte, hatten die wenigen Drakonier, denen er später begegnet war, sie nicht gesehen. Was konnte passiert sein? Hatte sie... Nein, daran wollte er nicht denken. Er ging weiter. Vor ihm wehte die frische Nachtbrise, hinter ihm blähten sich Rauchschwaden auf.Der Tempel begann zu brennen.
Als er einen schmalen Korridor passierte und über einen Haufen Schutt stieg, hörte Tanis ein Geräusch. Er blieb stehen.
Ja, da war es wieder – genau vor ihm. Er spähte durch den Rauch und den Staub und griff nach seinem Schwert. Die letzte Gruppe Drakonier, der er begegnet war, war betrunken und mordlustig gewesen. Ein einzelner menschlicher Offizier könnte da schnell zum leicht erlegbaren Wild werden... Aber glücklicherweise hatte sich einer von ihnen erinnert, Tanis mit der Finsteren Herrin gesehen zu haben. Beim nächsten Mal würde er vielleicht nicht mehr so viel Glück haben.
Vor ihm lag der Korridor in Trümmern, ein Teil der Decke war eingebrochen. Es war tiefdunkel – seine Fackel bot das einzige Licht -, und Tanis haderte mit sich über die Notwendigkeit, etwas zu sehen, und der Angst, gesehen zu werden.
Schließlich entschied er, das Risiko einzugehen, sie brennen zu lassen. Er würde Laurana niemals finden, wenn er in der Dunkelheit herumirrte.
Wieder einmal mußte er seiner Verkleidung vertrauen.
»Wer da?« brüllte er mit barscher Stimme und hielt die Fackel kühn in den zerstörten Korridor.