»Warte! Raistlin!« schrie Caramon mit rauher Stimme. »Ich komme mit dir!«
Cyan hob beunruhigt seinen Riesenkopf, beäugte den Menschen mit flammendem Blick.
»Würdest du?« fragte Raistlin leise und legte eine besänftigende Hand auf den Hals des Drachen. »Würdest du mit mir in die Finsternis kommen?«
Caramon zögerte, seine Lippen wurden trocken, Furcht dörrte seine Kehle aus. Er konnte nicht sprechen, aber er nickte zweimal, biß sich vor Qual auf seine Lippe, als er hinter sich Tika aufschluchzen hörte.
Raistlin musterte ihn, seine Augen wirkten wie goldene Punkte in der tiefen Schwärze. »Ich glaube es dir wahrhaftig«, sinnierte der Magier. Einen Moment lang saß Raistlin auf dem Rücken des Drachen und grübelte. Dann schüttelte er entschieden den Kopf.
»Nein, mein Bruder, du kannst mir nicht dorthin folgen, wo-hin ich gehe. Stark wie du bist, es würde dich doch in den Tod führen. Wir sind schließlich so geworden, wie es die Götter vorgesehen hatten, Caramon – zwei ganze Menschen, und hier trennen sich unsere Wege. Du mußt lernen, allein deinen Weg zu geehen, Caramon«, einen Moment lang flackerte ein geisterhaftes Lächeln in Raistlins Gesicht auf, »oder mit jenen, die mit dir gehen wollen. Leb wohl – mein Bruder.«
Auf ein Wort seines Herrn breitete Cyan Blutgeißel seine Flügel aus und erhob sich in die Lüfte. Das Licht von Raistlins Stab wirkte wie ein winziger Stern in der tiefen Schwärze der Flügel des Drachen. Und dann wurde auch dieser Stern von der Dunkelheit verschluckt.
»Da kommen jene, auf die du gewartet hast«, sagte der alte Mann sanft.
Tanis hob seinen Kopf.
In den Schein des Feuers traten drei Leute – ein riesiger und starker Krieger, in die Rüstung der Drachenarmee gekleidet, im Arm eine junge Frau mit lockigem Haar. Ihr Gesicht war bleich vor Erschöpfung und blutverschmiert, und in ihren Augen lag tiefe Sorge und tiefes Leid, wenn sie zu dem Mann aufblickte.
Hinter ihnen her stolperte schließlich, so müde, daß er sich kaum bewegen konnte, ein ungepflegter Kender in zerrissenen blauen Hosen.
»Caramon!« Tanis erhob sich.
Der große Mann hob seinen Kopf. Sein Gesicht hellte sich auf. Er öffnete seine Arme und zog Tanis mit einem Schluchzen an seine Brust. Tika beobachtete die zwei Freunde mit Tränen in den Augen. Dann wurde sie sich einer Bewegung am Feuer gewahr.
»Laurana?« fragte sie zögernd.
Die Elfenfrau trat vor, ihr goldenes Haar glänzte im Schein des Feuers heller als die Sonne. Obwohl sie eine blutverschmierte, zerbeulte Rüstung trug, hatte sie die Haltung, den majestätischen Blick der Elfenprinzessin bewahrt, die Tika vor vielen Monaten in Qualinesti kennengelernt hatte.Unsicher befingerte Tika ihr blutverklebtes Haar. Die weiße Bluse mit den Puffärmeln hing in Fetzen an ihr, allein ihre zusammengewürfelte Rüstung hielt alles zusammen. Unkleidsame Narben verschandelten ihre wohlgeformten Beine, und von diesen wohlgeformten Beinen war viel zuviel sichtbar.
Laurana lächelte, und dann lächelte auch Tika. Es spielte keine Rolle. Laurana trat schnell zu ihr und legte ihre Arme um sie und hielt sie fest.
Der Kender stand einen Moment ganz allein am Rande des Feuerscheins, seine Augen auf den alten Mann gerichtet. Hinter dem alten Mann schlief ein großer goldener Drache, ausgestreckt auf dem Hügel liegend, seine Flanken hoben und senkten sich mit seinem Schnarchen. Der alte Mann winkte Tolpan zu sich.
Einen Seufzer ausstoßend, der von seinen Zehenspitzen zu kommen schien, senkte Tolpan seinen Kopf. Mit schleppenden Schritten ging er langsam zu dem alten Mann.
»Wie heiße ich?« fragte der alte Mann, der seine Hand ausstreckte, um den Zopf des Kenders zu berühren.
»Nicht Fizban«, sagte Tolpan jämmerlich, weigerte sich, ihn anzusehen.
Der alte Mann lächelte und streichelte über den Zopf des Kenders. Dann zog er Tolpan näher zu sich, aber der Kender gab nicht nach, sein kleiner Körper versteifte sich. »Aber bis jetzt war es mein Name«, sagte der alte Mann sanft.
»Und wie lautet er nun?« murmelte Tolpan mit abgewandtem Gesicht.
»Ich habe viele Namen«, antwortete der alte Mann. »Bei den Elfen bin ich als E'li bekannt. Die Zwerge nennen mich Thak. Bei den Menschen heiße ich Skyblade. Aber mein Lieblingsname ist der, unter dem ich bei den Rittern von Solamnia bekannt bin – Draco Paladin.«
»Das habe ich mir gedacht!« stöhnte Tolpan und warf sich auf den Boden. »Ein Gott! Ich habe alle verloren! Alle!« Er begann bitterlich zu weinen.
Der alte Mann musterte ihn einen Moment lang zärtlich,wischte sogar mit einer schwieligen Hand über seine feuchten Augen. Dann kniete er sich zu dem Kender und legte tröstend einen Arm um ihn. »Sieh mal, mein Junge«, sagte er und legte einen Finger unter Tolpans Kinn und richtete seine Augen zum Himmel, »siehst du da oben den roten Stern? Weißt du, weltiem Gott dieser Stern gewidmet ist?«
»Reorx«, antwortete Tolpan mit dünner Stimme, seine Tränen hinunterwürgend.
»Er ist rot wie das Feuer seiner Schmiede«, sagte der alte Mann. »Er ist rot wie die Funken, die von seinem Hammer fliegen, wenn er die geschmolzene Welt, die auf seinem Amboß ruht, formt. Neben der Schmiede von Reorx steht ein Baum von unübertrefflicher Schönheit, so etwas hat ein lebendiges Wesen niemals gesehen. Unter diesem Baum sitzt ein grummelnder alter Zwerg, der sich vom vielen Arbeiten ausruht. Ein Krug Bier steht neben ihm, das Feuer der Esse wärmt seine Knochen. Er verbringt den ganzen Tag unter diesem Baum, Schnitzt und formt das Holz, das er so liebt. Und jeden Tag kommt jemand an diesem wunderschönen Baum vorbei und will sich zu ihm setzen.
Der Zwerg funkelt sie dann so streng an, daß sie sich unverzüglich wieder erheben. Dieser Platz ist heilig, grummelt der Zwerg. Irgendwo ist ein lahmdenkender Türknopf von Kender auf Abenteuern unterwegs, der sich selbst und all jene, unglücklich genug, mit ihm zusammen zu sein, in eine nichtendenwollende Kette von Schwierigkeiten bringt. Achtet auf meine Worte. Eines Tages wird er hier erscheinen, und er wird meinen Baum bewundern und sagen: Flint, ich bin müde. Ich glaube, Ich ruhe mich hier ein bißchen aus bei dir. Dann wird er sich hinsetzen und sagen: Flint, hast du schon von meinem neuesten Abenteuer gehört? Nun, da war dieser schwarzgekleidete Zauberer und sein Bruder und ich, und wir waren auf einer Reise durch die Zeit, und die wundervollsten Dinge sind passiert...
Und ich muß mir wieder so eine verrückte Geschichte anhöen... Und so grummelt er weiter. Jene, die unter diesem Baum sitzen möchten, verbergen ihr Lächeln und lassen ihn in Ruhe.«»Dann... ist er nicht allein?« fragte Tolpan und wischte sich mit einer Hand über die Augen.
»Nein, Kind. Er ist geduldig. Er weiß, daß du in deinem Leben noch eine Menge zu erledigen hast. Er wartet. Außerdem hat er bereits all deine Geschichten gehört. Du mußt ihm schon mit ein paar neuen kommen.«
»Aber diese hat er noch nicht gehört«, sagte Tolpan mit erwachender Aufregung. »Oh, Fizban, es war wundervoll! Ich bin fast gestorben – wieder einmal. Und ich habe meine Augen geöffnet, und da war Raistlin in schwarzer Robe!« Tolpan erbebte vor Entzücken. »Er sah so – na ja – so böse aus! Aber er hat mein Leben gerettet! Und – uh!« Er hielt entsetzt inne, dann ließ er seinen Kopf hängen. »Es tut mir leid. Ich habe es vergessen. Ich vermute, ich sollte dich nicht mehr Fizban nennen.«
Der alte Mann erhob sich und tätschelte ihn sanft. »Nenn mich Fizban. Von nun an soll das mein Name bei den Kendern sein.« Die Stimme des alten Mannes wurde nachdenklich. »Um die Wahrheit zu sagen, der Name ist mir richtig ans Herz gewachsen.«
Der alte Mann ging zu Tanis und Caramon und lauschte einen Moment ihrer Unterhaltung.
»Er ist gegangen, Tanis«, sagte Caramon traurig. »Ich weiß nicht, wohin. Ich verstehe es nicht. Er ist immer noch zerbrechlich, aber nicht mehr schwach. Dieser entsetzliche Husten ist verschwunden. Seine Stimme ist seine eigene, aber doch anders. Er ist...«