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Nandalee ballte die Rechte zur Faust. Sengender Schmerz schoss durch ihre verstümmelten Finger. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie mit dieser Hand ohne Fingerkuppen nie wieder eine Bogensehne spannen würde. Das Fenster hatte ihr genommen, was ihr am meisten bedeutete. Das Einzige im Leben, in dem sie wirklich herausragend gewesen war. Ihr Schmerz verwandelte sich in Zorn. Sie stemmte sich hoch. Sie wollte wissen, wo sie war, und ihren singenden Peinigern all ihren Hass entgegenschreien. Und wenn es das Letzte war, was sie in ihrem Leben tat.

Nandalee stolperte in eine weite Halle. Fackeln und Feuerbecken ließen unstetes Licht über Säulen und Wände tanzen. Die Halle stand kniehoch unter Wasser. Blinzelnd betrachtete sie die Sänger. Seltsame Geschöpfe, elfenähnlich und doch auf groteske Weise anders. Lange, weit nach hinten gebogene Hörner wuchsen ihnen aus der Stirn. Sie hatten Gazellenbeine! Gelenke an den falschen Stellen. Es waren nur Frauen! Eine stand so nah bei ihr, dass Nandalee sie mit ausgesteckter Hand hätte berühren können. Die Augen der Sängerin waren so verdreht, dass man nur noch das Weiße sah. Sie war ganz in ihren langsamen Sprechgesang versunken. Die samtig weiche Stimme dämpfte Nandalees Zorn.

Alle Sängerinnen waren nackt. Und waren es auch wieder nicht. Sie hatten sich in schillernde Farben gewandet. Ihre Körper waren bemalt. Jeder auf verschiedene Art. Verschlungene Muster in Weiß, Scharlachrot, Dunkelblau und hellem Grau bedeckten ihre gebräunten Leiber. Träger Rauch trieb zwischen ihnen einher. In blauen, durchscheinenden Schlangen wand er sich zwischen den bemalten Leibern hindurch. Er wogte aus der Mitte des riesigen Saales, wo zwischen mächtigen Säulen etwas schwarz Glänzendes auf einem Sockel ruhte. Der Rauch roch so gut … so gut …

Das glänzende Ding bewegte sich. Nandalee erkannte eine riesige Schlange mit baumdickem Leib, die halb im Rauch verborgen lauerte. Plötzlich verstummten die Sängerinnen. Wie auf einen unhörbaren Befehl hin drehten sie alle den Kopf zu ihr. Ihre Augen blieben weiß… Nein, perlmuttfarben. Sie alle waren blind!

Ihr?

Hitze fuhr ihr durch alle Glieder, der Rauch verflüchtigte sich und offenbarte ihren Irrtum. Keine Schlange wand sich dort, sondern ein langer, geschuppter Schwanz. Der Schwanz eines Drachen. Er war groß. Unvorstellbar groß. Noch riesiger als die Himmelsschlangen, denen sie begegnet war.

Ihr erstaunt mich, Dame Nandalee.

Blaue Augen sahen durchdringend zu ihr hinab. Kommt her. Kommt zu mir.

Diese Augen! Es waren die Augen des Elfen, dem sie in der Höhle der Himmelsschlangen begegnet war. »Du bist der Dunkle«, flüsterte sie. Das Fenster hatte sie also tatsächlich zu ihm geführt.

Er streckte eine seiner Tatzen vor und eine seiner messerscharfen Krallen berührte ihre Stirn.

Es hat sich also nichts geändert.

Nandalee vermochte seinem Blick nicht standzuhalten. Sie sah auf das schwarze Wasser, begegnete dort seinem Spiegelbild – und sie sah sich! Ihr Gesicht war von Schnitten entstellt, ihre Nasenspitze verschwunden, eine Augenbraue eine offene Wunde. Entsetzt blickte sie auf ihre Hände … Die Fingerkuppen. Sie schluchzte auf – ihre Hände!

Wie habt Ihr den Weg hierher gefunden, Albenkind? Die Stimme des Drachen duldete keinen Gedanken, der nicht ihm galt. Nandalee vermochte sich nicht länger auf den Beinen zu halten. All ihre Kraft war versiegt. Sie sank auf die Knie. »Du hast mich hierhergebracht … Ich …«

Durch ihre Glieder fuhren tanzende Flammen. Der Drache lachte!

Ihr irrt, meine Holde. Tatsächlich hat Eure Andersartigkeit mich beschäftigt, aber seit einiger Zeit hatte ich nicht mehr an Euch gedacht. Seine Krallenhand fuhr erneut herab, legte sich sanft auf ihr Haupt, und nach dem heißen Strom seiner Gedanken war es nun Kälte, die sie durchfloss. Wieder kämpfte sie gegen Übelkeit an, dann wich die Kälte einer angenehmen Mattigkeit.

Die Windungen seines Schwanzes bewegten sich mit leisem, schleifendem Geräusch über den Fels. Wie habt Ihr den Weg zu mir gefunden? Sprecht!, befahl er, und sie erzählte ihm von Bidayn und der Kammer in der Bibliothek, vom Fenster und von Gonvalons Fluch.

Der Dunkle wiegte sein mächtiges Haupt und senkte es dann ganz nah zu ihr herab. Seine kalten blauen Augen hielten sie gefangen. Er bleckte die Zähne, glänzend weiße, spitze Dornen, jeder von ihnen so lang wie ein Arm. Er war ein Jäger. Ein Raubtier. Das machtvollste Raubtier, das sie jemals gesehen hatte. Zugleich war er ein Wesen, dessen Geist so unendlich viel mehr Wissen in sich beherbergte, als in der ganzen Bibliothek der Weißen Halle verborgen lag. Und zum ersten Mal in ihrem Leben erahnte Nandalee das Wesen der Drachen. Ihre Kraft. Ihre Klugheit. Ihre Schönheit.

Sanft zog der Dunkle sie mit seiner Kralle näher zu sich heran und sie ließ es geschehen. Ihr seid gefährlich, stellte die Himmelsschlange fest. Gefährlich, leidenschaftlich und im Ganzen sehr ungewöhnlich.

Nandalee verstand nicht. Sie war nicht gefährlich – sie war in Gefahr. War verstümmelt und aus ihrer Zeit gerissen. Und sie war nicht hergekommen, um ihn zu bedrohen, sondern um ihn um seine Hilfe zu bitten. Für ihre Vermessenheit hatte sie einen hohen Preis bezahlt. Die Narben dieser Nacht würde sie bis ans Ende ihrer Tage tragen.

Noch nie ist eine junge Elfe aus der Weißen Halle diesen Weg gegangen. Nodon und seine Drachenelfen, die hoch in den Felsen in einer Feste über mich wachen, wären entsetzt, wenn sie wüssten, dass Ihr so einfach an ihnen vorbeigekommen seid.

»Einfach?«, fauchte sie und hielt ihm ihre Hände entgegen. »Das nennst du einfach?«

Er musterte sie aufmerksam, fast liebevoll. Ich habe Eure Blutungen gestillt, aber Ihr werdet Narben an den Fingerkuppen und im Gesicht behalten, meine Holde. Sie sollen Euch bleiben, um Euch an Eure Unvernunft zu erinnern, der Ihr Eure Schönheit geopfert habt.

Der Gedanke, für immer entstellt zu sein, überwältigte sie. Wie würde sie in Zukunft aussehen? Würde Gonvalon sie noch lieben? Ein Narbengesicht? Warum hatte der Drache sie nicht geheilt? Das lag doch sicher in seiner Macht! Heiße Wut flammte in ihr auf. Sie war unvernünftig und launisch? Sie? »Welche Unvernunft? «, fuhr sie den Dunklen an. Sie war eine Jägerin wie er. Und sie würde sich nicht von ihm verspotten lassen. Auch dann nicht, wenn es ihr den Tod bringen würde. »Ich habe nichts Unvernünftiges getan! Das verdammte Fenster hat mich angelockt — und dann hat es versucht, mich zu töten!«

Der Drache sah sie durchdringend an. Es lag kein Zorn in seinem Blick. Eher Mitleid. Das glaubt Ihr wirklich, nicht wahr, kleine Elfe?

Kleine Elfe! »Es ist die Wahrheit!«, sagte sie.

Da waren sie wieder, die tanzenden Flammen in ihrem Inneren, die sie kitzelten, statt sie zu verletzen. Die Augen des Dunklen funkelten wie das Firmament über der Steppe Carandamons. Ja, die Wahrheit. So leicht wird sie beschworen. Mit so viel Leidenschaft. Wahr ist, dass Eure Freundin Euch von dem Fenster erzählt und Eure Neugier geweckt hat. Wahr ist auch, dass Ihr das Wort der Macht nicht kanntet. Aber Ihr wusstet, was das Fenster zu tun vermag – im Guten wie im Schlechten. Und da war ein Wunsch in Eurem Herzen, der heller brannte als Eure Furcht. Mit diesem Wunsch im Herzen seid Ihr in das verborgene Zimmer gegangen und habt Euch den Zauber des Fensters untertan gemacht. Wie soll ich das nennen? Hybris? Selbstüberschätzung?