Nyr spuckte aus. »Ich mag ihn wirklich nicht. Wir sollten da oben stehen und ein Pilz trinken! Der hat sich noch keinen Tag die Hände schmutzig gemacht.«
»Ach, komm schon«, sagte Galar und setzte sich in Bewegung. Er wollte genauer sehen, wie tief der Speer in das Fass eingedrungen war. Eine elende Kletterei lag vor ihnen. Den Hang hinab und auf der anderen Seite des kleinen Tals wieder hinauf. Nyrs Schuss war eine Meisterleistung gewesen. Ein Treffer auf eine halbe Meile! Galar kannte niemanden, der es seinem Gefährten gleichtun könnte. Er hörte, wie Nyr ihm folgte. Sie beide würden heute auch noch ihr Pilz trinken und feiern. Aber ohne die reichen Scheißer! Das war ihr Sieg!
Endlich erreichten sie das Fass. Auch wenn es sich äußerlich nicht von einem beliebigen Fass unterschied, verbargen sich viele Arbeitsstunden hinter den dicken Eichendauben. Der Treffer hatte es nicht umgeworfen und die durchbohrte Daube auch nicht splittern lassen. Von innen war das Fass mit Eisenblechen ausgekleidet. Und gefüllt war es mit halb gefrorenem Schweinschmalz. So kam es der festen Drachenhaut und dem zähen Fleisch der Bestien nahe. Einfach nur ein Fass zu nehmen und zu glauben, es genüge, es zu treffen, wäre naiv. Der Speer musste auch tief genug eindringen, um den Drachen zu töten oder ihn zumindest so schwer zu verletzen, dass er sich nicht mehr in die Lüfte schwingen konnte. Wenn sie ihn nicht mit dem ersten Schuss kampfunfähig machten, wären sie tot. Die gelb-schwarze Bestie wäre über ihnen, bevor sie Gelegenheit zu einem zweiten Schuss bekämen.
Skeptisch betrachtete Galar den Speer. Der Schaft war durch die Wucht des Aufpralls gesplittert. Die Spitze des Speers war nicht bis zum Schaft eingedrungen. »Wie lang ist das Stichblatt?«
»Acht Zoll«, sagte Nyr. »Was ist in diesem verdammten Fass? Steine? Der Speer hätte es durchschlagen sollen.«
Galar legte seine Hand an das leicht verbogene Stichblatt und versuchte zu schätzen, wie tief die Spitze eingedrungen war. Weniger als vier Zoll, schätzte er. Er würde das Fass in seine Werkstatt bringen lassen und dort genauer untersuchen. Vielleicht war nicht einmal das Eisenblech im Inneren durchschlagen. »Schlecht«, murmelte er. »Ganz schlecht.«
»Was ist los?«, schimpfte Nyr. »Such dir einmal einen, der so einen Schuss hinbekommt!«
Galar konnte verstehen, dass sein Freund aufgebracht war, aber ihr Experiment war gescheitert. Die Geldgeber durften das nicht erfahren! »Wenn das ein Drache und kein Fass gewesen wäre, wären wir jetzt tot. Der Speer wäre nicht tief genug eingedrungen, um ihn tödlich zu verwunden.«
Nyr trat neben das Fass. »Du solltest mir vorher Bescheid sagen, auf was ich schieße.«
»Auf einen verdammten Drachen! Du wusstest das.«
Der Geschützmeister zupfte nachdenklich an seinem Bart. »Was hast du in das Fass getan?«
Galar erklärte es ihm.
»Der Speer muss eine andere Spitze haben. Einen Dreikant am besten. Der wird das Eisenblech durchschlagen. Er wird sich auch nicht verbiegen. Und die Waffe muss noch stärker sein.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Weißt du, was das bedeutet? Wir fangen wieder ganz von vorne an.«
Priesterträume
»… Am nächsten Morgen aber, als die rotgoldene Sonne ihre Flügel am Horizont weitete, da wussten sie, dass die Macht des bösen Königs gebrochen war. Die Daimonen, mit denen er sich so leichtfertig verbündet hatte, waren in dieser Nacht gekommen. Und sie hatten Herzen und Seelen aller Grausamen und Habgierigen mit sich genommen. Die Rechtschaffenen aber und die, die fest zu ihrem Glauben standen, hatten sie nicht berühren können. Und die Sonne erhob sich über einer neuen Welt, in die Gerechtigkeit eingekehrt war.«
Barnaba beendete seine Erzählung und blickte in die Runde. Die kleineren Kinder waren in den Armen ihrer Eltern eingeschlafen. Der Kreis seiner Zuhörer war gewachsen. Die Lastenträger und Wasserweiber, Dienerinnen und auch einige der Karawanenwachen kamen Abend für Abend, um ihm zu lauschen. Zufriedenes Gemurmel breitete sich aus. Es war eine Geschichte gewesen, in der all die Hoffnungslosen, die Unterdrückten und Armen am Ende obsiegten.
Eine Frau, deren Gesicht von nässendem Ausschlag entstellt war, schenkte ihm einen Becher mit Wasser ein. Eine andere brachte ein Stück Fladenbrot und etwas lauwarmen Linsenbrei. Barnaba genoss das einfache Mahl und die freundlichen Worte. Größer konnte der Unterschied zum Leben an der Seite des Hohepriesters Abir Ataš nicht sein. Aller Luxus war verschwunden, Stolz und Hochmut vergangener Tage waren gewichen. Barnaba hatte gehört, dass der alte Priester in den Folterkammern des Unsterblichen gestorben war. Er wusste auch, wie grausam man die Elite der Priesterschaft verfolgt hatte. Aarons Bluthund Juba hatte ein schreckliches Gemetzel angerichtet und viele, die dem Hohepriester Abir Ataš weit weniger nahegestanden hatten als er, waren nun tot. Barnaba war klar, wie knapp er dem Verderben entgangen war. Bis ans Ende seiner Tage würde er Abir Ataš dankbar bleiben, dass dieser ihn am Morgen des Himmelsflugs der Elfe zurück zum Palast von Akšu geschickt hatte. Er war es gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass sie abstürzen musste. Er hatte alle Vorbereitungen zum Himmelsflug geleitet. Deshalb stand er an vorderster Stelle auf der Todesliste Jubas. Barnaba wusste, dass er noch immer gesucht wurde.
Er blickte sich unter den Karawanenbegleitern um, die sich in ihre alten Decken rollten und Schlaf suchten. Eine grauhaarige Alte fragte ihn, ob er noch etwas brauche. Er verneinte höflich. Im Leben dieser Menschen war alles knapp bemessen. Das Essen, die Zeit zu schlafen. Die Jahre, die sie leben würden. Alles! Und doch teilten sie um so viel großherziger als die Reichen und Mächtigen, in deren Welt er bisher gelebt hatte. Er verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Sie hatten keine Ahnung, wer sich da in ihrer Mitte verbarg. Wer sie als Schild benutzte. Barnaba hatte sich die Haare geschoren. Er ging als glatzköpfiger Wanderpriester. In Lumpen gehüllt. Ohne jeden Besitz.
Sein Blick wanderte zu den hell erleuchteten Zelten, die auf dem freien Feld vor den Ruinen der Karawanserei aufgestellt waren. Denen dort drüben fehlte es an nichts — so schien es zumindest auf den ersten Blick. Und doch fühlte er sich in vielerlei Hinsicht reicher. Er würde mit dem Blick auf den wunderbaren Sternenhimmel einschlafen. Und sie hatten nur ein Stück Stoff über sich.
Barnaba entschied, dass er morgen die Karawane verlassen würde. Sein eigener Vater würde ihn in dieser Verkleidung nicht wiedererkennen! Und doch war es klüger, vorsichtig zu sein. Auch durfte er die Menschen, die mit ihm Speis und Trank geteilt hatten, nicht in Gefahr bringen. Je länger er an einem Ort blieb oder mit denselben Leuten zusammen war, desto größer wurde die Gefahr, dass durch einen Zufall herauskam, wer sich in Wahrheit hinter dem zerlumpten Wanderpriester verbarg. Barnaba verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich gegen die Mauer, die noch einen letzten Rest der Mittagshitze in sich trug, und blickte zu den Sternen auf. Nie zuvor in seinem Leben war er so frei gewesen. Er dachte daran, in eine der abgelegenen Reichsprovinzen zu flüchten. Vielleicht in die Berge von Kush. Ganz sicher war er sich nicht, was er wollte. Zwei Träume rangen in ihm miteinander. Der eine war dem Wunsch nach Rache entsprungen. Er wollte Aaron, den Schlächter, und dessen Folterknecht Juba stürzen sehen. Gerne stellte er sich vor, wie er Nadelstich auf Nadelstich setzte, bis die beiden am Ende verblutet waren. Dazu gehörten die Geschichten über ungerechte Herrscher und die Nacht der Daimonen, die im einfachen Volk so viel Anklang fanden. Eine Nacht, die nur die Gerechten überleben würden … Er seufzte. Das war ein Traum! Wenn er Wirklichkeit werden sollte, müsste er letztlich nach Nangog. Barnaba hatte Geschichten über einen ehemaligen Satrapen gehört, der einen Kult um die Grünen Geister gegründet hatte und auch eine ominöse Göttin anbetete. Tarkon Eisenzunge hieß er. Angeblich gebot er über Wolkensammler und hatte eine Stadt im Himmel gegründet. Er hätte vielleicht die Macht, sich gegen einen Tyrannen wie Aaron aufzulehnen. Oder aber Muwatta, der Unsterbliche von Luwien. Barnaba seufzte. Träume! So fern der Wirklichkeit.