Выбрать главу

Seine Gedanken wanderten zu der Elfe. Selbst im Tod hatte sie noch schön ausgesehen! Er hatte Abir Ataš nicht alles über die Xana erzählt, jene Quellnymphe, die die unruhigen, fiebrigen Träume seiner Jugend beherrscht hatte. Es war eine mindere Lüge gewesen. Nein, genau genommen hatte er nichts Falsches gesagt. Er hatte einfach nur einen Teil verschwiegen. Den Teil, dass er dem Steuermann aus Aarons Zinnflotte noch ein zweites Mal begegnet war, als dieser schon zum Flottenbefehlshaber aufgestiegen war. Barnaba hatte ihn gesucht, weil er die Geschichte aus seiner Kindheit nicht vergessen konnte. Und er wusste nun, dass man den Xana in der Mittsommernacht begegnen konnte. Es war die einzige Nacht, in der sie für Menschen sichtbar wurden. Barnaba dachte an das Strahlen in den Augen des alten Seefahrers. Er hatte die Quellnymphe vor der Zeit wiedergesehen, weil er sein Schicksal in die Hand genommen und sich nicht ihrer Prophezeiung gefügt hatte.

Barnabas Blick ruhte auf den unerreichbar fernen Sternen und er wurde schläfrig. Konnte auch er es schaffen, einen Daimon zu finden? Eine Xana! Sie waren aus ihrer Welt verbannt worden, weil sie zu frei über die Zukünfte gesprochen hatten, die sie gesehen hatten, so hatte es ihm der Seefahrer erzählt. Man konnte die Xana an einsamen Bächen, Seen oder Wasserfällen in den Bergen finden. Weitab jeder Siedlung. An Orten, an die sich trotz ihrer Schönheit so gut wie nie ein Wanderer verirrte.

Der Seefahrer hatte so lebhaft von ihnen gesprochen! Von der unbeschreiblichen Schönheit, ihrem langen, goldenen Haar, den Augen voller Weisheit und Lebenslust. Wenn er einer solchen Frau begegnen könnte …

Barnaba seufzte. Was für ein schändlicher Priester er war! Seine Träume drehten sich abwechselnd darum, Buhlschaft mit einer Daimonin zu treiben oder Rache auszuleben. Wann würde er seinen Frieden finden?

Die Augen fielen ihm zu. Und in seinen Gedanken erstand wieder das Bild einer wunderschönen goldhaarigen Frau, die am Ufer eines Bergsees saß und ihr Haar kämmte.

Ein vergessener Stein

Sprachlos sah Nandalee sich um. Nie war sie an einem Ort wie diesem gewesen. Als sie aus dem Albenstern getreten waren, hatte sie der Winter empfangen. Unter ihnen lag ein wunderschönes grünes Tal. Doch sie mussten den Winter durchschreiten, um dorthin zu gelangen. Hundert Schritt maß die Strecke.

Der Winter war die Jahreszeit, die ihr am besten vertraut war. Es war die Jahreszeit, die in Carandamon am längsten währte. Aber dies hier war ein Winter ohne Härte. Es gab keine schneidenden Winde. Sonne brach sich funkelnd in den Eiszapfen, die von den Bäumen hingen. Viel zu viele Eiszapfen. Als habe jemand die Bäume mit Eis geschmückt. Nandalee lächelte über den absurden Gedanken.

»Fällt Euch etwas auf?« Der Erstgeschlüpfte hatte seine Elfengestalt angenommen. Er war wieder der Dunkle, so wie bei ihrer ersten Begegnung. Warum er seine Gestalt verändert hatte, hatte er nicht erklärt. Sie würde ihn auch nicht fragen. Ihn als einen Elfen neben sich zu haben war Nandalee angenehmer. So wirkte er weniger einschüchternd. Er war auf eine düstere Art attraktiv. Nur seine Augen hatten sich kaum verändert. Die geschlitzten Pupillen waren zwar verschwunden, doch das ungewöhnliche Blau war geblieben – die Farbe des Himmels an einem strahlenden Wintertag.

»Dies hier ist wie eine romantische Idee vom Winter. Kein wirklicher Winter.«

Der Dunkle nickte. »Das trifft es so ungefähr. Sie hat immer von Harmonie und von einer vollkommenen Welt geträumt. Die Wirklichkeit konnte sie nur schwer ertragen. Sie ist nur sehr selten von hier fortgegangen. Zwei Mal habe ich sie hier schon vergeblich gesucht. Ich hoffe, nun ist sie zurückgekehrt.«

»Wer?«

»Ich werde Euch keine Namen nennen. Ihr seid nur hier, um Euch umzusehen. Dieser Ort ist der Zufluchtsort einer Albe. Ihr werdet sie mögen, wenn wir ihr begegnen. Es ist unmöglich, sie nicht zu mögen, auch wenn sie ein wenig … konfus ist.«

Nandalee gehorchte. Sie sah sich um. Was erwartete er, dass sie fand? Er war ihr so unendlich überlegen … Sie verließen den falschen Winter und gelangten in einen überschwänglichen Frühling. Die Bäume ertranken in ihrer Blütenpracht. Singvögel wetteiferten miteinander. Eine leichte Brise trug Blütenblätter und Wohlgerüche mit sich. Sie sah junge Hasen neben einem Fuchs spielen, der ihnen friedlich zusah. Kein Ast war hier gebrochen. Kein Blatt abgerissen. Alles wirkte vollkommen – und absolut falsch. Sollte so eine vollkommene Welt aussehen?, fragte sich Nandalee. Ihre Welt war es jedenfalls nicht. Sie blickte auf ihre verschorften, schmerzenden Fingerkuppen. Das war die Wirklichkeit! Sie schluckte hart und versuchte sich nicht vorzustellen, wie ihr Gesicht aussehen musste.

Immer wieder sah der Dunkle sie forschend an. Waren es ihre Wunden oder wollte er etwas von ihr? Was sollte sie hier? Sollte er es ihr sagen! Sie würde keine Fragen stellen, dachte Nandalee trotzig. Keine einzige Frage! Und wenn sie sich die Zunge abbeißen musste.

Mohnblüten säumten einen Wildwechsel. Sie entdeckte einen einzelnen Fußabdruck in dunkler Erde. Er stammte vom Dunklen, wie es schien. Sie betrachtete die Fährte, blickte auf die Stiefel des Erstgeschlüpften.

»Sie ist nicht hier«, sagte der Drache endlich. »Ich würde sie spüren. Sie hat immer gute Laune.« Er senkte den Kopf.

Die Mohnblüten führten sie auf eine Lichtung. Sie waren im Sommer angelangt. Eine Spur von Gelb hatte sich unter das Grün des Grases gemischt. Auf Bäumen ganz in der Nähe hingen reife Früchte. Einer der Bäume trug Äpfel und Birnen gleichzeitig. Nandalee ärgerten diese Spielereien. Es war unnötig! War es Langeweile gewesen? So vieles hätte man auf dieser Welt noch verbessern können. Sie dachte an die Winternächte, in denen ihr Magen ihr ein Schlaflied geknurrt hatte.

Am anderen Ende der Lichtung erstrahlte ein seltsames silbernes Licht. Nandalee hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Ein wenig erinnerte es an die Tore, die sich bei den Albensternen öffneten. Doch dies hier war kein Lichtbogen. Es war eine schillernde Fläche. Ein wenig größer als sie. Etwas Verlockendes haftete ihr an.

»Gebt acht, meine Holde. Wenn Ihr durch dieses Licht tretet, werdet Ihr dem Hort der Seelen entrissen. Ihr entschwindet an einen Ort, an den ich Euch nicht folgen kann.«

»Was ist das?« Kaum dass die Worte über ihre Lippen waren, ärgerte sie sich. Sie hatte sich doch Schweigen gelobt!

»Die Alben nennen es das Mondlicht. Es ist von Geheimnissen umwoben. Selbst für die Alben. Ich kann spüren, dass jemand durch dieses Tor gegangen ist, aber ich glaube nicht, dass es die Herrin dieses Hains war. Sie hat Albenmark geliebt. Sie wäre nicht davongelaufen!«

»Und wenn sie doch der Versuchung erlegen ist?« Nandalee vermochte kaum den Blick von diesem Licht abzuwenden.

»Nein!«, entgegnete der Dunkle überraschend heftig. »Nicht sie! Ein fremder Zauber ist hier gewoben worden. Seinen Nutzen vermag ich nicht zu ergründen, aber ich spüre deutlich, dass etwas hier nicht stimmt.«

Nandalee dachte an Gonvalon. Obwohl er sie in jener Nacht, als sie aus der Blauen Halle zurückgekehrt waren, an den Goldenen verraten hatte. Sie hatte sich so sehr nach ihm gesehnt, als sie vor der Weißen Halle gestanden hatten. Gerade erst hatte sie sich für ihn aufgeopfert, darauf verzichtet, eine Meisterin in der Blauen Halle zu sein. Und was hatte er getan? Er war zu seinem Drachen geeilt, statt mit ihr zu verweilen. Ob er auch verraten hatte, was seitdem geschehen war? Ihr Herz sagte ihr, dass ihre Liebe sein Geheimnis geblieben war. An ihrem Verstand aber nagte der Zweifel. Sie wollte ihn wiedersehen! Entschieden wandte sie sich von dem silbernen Licht ab.

Ein vertrocknetes Blatt fiel ihr auf. Braunrot hob es sich vom satten Grün eines sommerlichen Haselbuschs ab. Sie betrachtete den Busch näher. Der Blattstängel war geknickt worden. Nur dieser eine. Sie spähte zwischen den Ästen hindurch. Ein Stein lag im Laub des Vorjahrs. Mit spitzen Fingern holte sie ihn unter dem Busch hervor und entdeckte darauf einen braunen Fleck. Sie witterte, leckte sogar daran.