Steinerne Brücken führten in kühnen Bögen über dunkle Teiche, in denen sich totenbleiche Fische bewegten. Nandalee war froh, als sie diesen feuchten Grotten entkamen und in einen weiten Tunnel abbogen, in dem sich Waren stapelten und fluchende Lastenträger dem fernen Ausgang entgegenstrebten. Hier gab es auch wieder die kleinen, hageren Grubenpferde, die diesmal hohe Körbe aus geflochtenen Weidenästen trugen. Lastenträger schleppten tief gebeugt Tragegestelle, die einzig von bunt gemusterten Stirnbändern auf ihrem Rücken gehalten wurden. Die meisten von ihnen schienen auf irgendwelchen Kräutern zu kauen, fluchten beständig und spuckten immer wieder aus. Es war eine mürrische Gesellschaft. Nandalee fragte sich, ob man so wurde, wenn man ein Leben fern der Sonne führte.
Die Höhle, auf die dieser besondere Tunnel zustrebte, war heller erleuchtet und das Lärmen fallenden Wassers toste ihnen entgegen. So laut, dass es bald jedes andere Geräusch überlagerte. Mit Staunen und Unbehagen zugleich blickte Nandalee in die seltsamste Höhle, die sie je gesehen hatte, und sie begriff sofort, was der Dunkle gemeint hatte, als er ihr prophezeit hatte, dass sie den Ort nicht mögen würde. Sie wich ein Stück zurück. »Nein«, sagte sie entschieden. »Nicht das! Dort gehe ich nicht hinein!«
Der Fluch der Seherinnen
»(…) Es begab sich zu jener Zeit, als der Dunkle und seine Brüder noch nicht voneinander getrennt waren und der Purpurne Frieden stiften konnte, wenn die Schlangen des Himmels stritten. Es war der Purpurne, der Ausgleich schaffte zwischen den Brüdern der ersten Brut. Er wusste um das Feuer in ihren Herzen und sorgte sich, dass ein Streit sie alle entzweien würde. So bat er die Alben, ihm Kinder zu erschaffen, die den Schleier der Zukunft zerreißen sollten, damit er jeden Streit schlichten könne. Und die Alben schenkten ihm die Xana. Nymphen, schön wie ein Sommertag, mit langem, goldenem Haar und einem Leib, so vollkommen, dass man den Blick nicht von ihnen abwenden konnte. Doch waren sie launisch wie ein Gebirgsbach im Frühling, mal sanft und friedlich, mal wild und überschäumend. Und sie sagten alles, was sie sahen, wenn sie in die Zukunft blickten, denn groß war ihre Gabe, doch Weisheit war ihnen nicht beschieden worden. Nur der Purpurne pflegte mit ihnen Umgang. Als er jedoch verschwand und es hieß, die Devanthar hätten ihn erschlagen und seinen Leib verschlungen, da dauerte es nicht lange, bis die Xana den Zorn der Himmelsschlangen auf sich zogen. Denn sie hatten ihnen verhei- ßen, dass die Schlangen vom Himmel stürzen und die Brut der Drachen von den Kindern der Alben vertrieben werden würde – und dass der Tag käme, an dem die Drachen wie Tiere sein würden, ohne Vernunft, nur grausame Räuber.
Da entschieden die Himmelsschlangen, dass es ein Fehler gewesen war, die Xana zu erschaffen, und sie jagten die Nymphen ohne Gnade. Nur jene unter ihnen überlebten, die sich in die Welt der Menschen flüchteten. Doch auch dort konnten sie nicht ohne Furcht leben, denn die Devanthar wollten sich ihrer Gabe bemächtigen. Und so kam es, dass die Xana einen Zauber woben, der sie für die Devanthar und ihre Geschöpfe unsichtbar machte. Nur einmal im Jahr, am Mittsommertag, wenn ihr Zauber bricht und sie ihn erneuern müssen, vermag ein Sterblicher, eine Xana zu sehen. Und wenn es ihm gelingt, ihr Herz zu erobern, bleibt ihm die Gabe erhalten, der Schönheit seiner Geliebten ansichtig zu werden, solange er bei ihr weilt. Doch heißt es, noch nie sei etwas Gutes aus der Verbindung zwischen einem unsterblichen Albenkind und einem sterblichen Menschensohn erwachsen, denn jede dieser Lieben endet in Trauer, Tod und Wahnsinn.
Die Himmelsschlangen aber vermissten schon bald die Gaben der Seherinnen. Der Dunkle war es, der die Alben bat, ihnen noch einmal Kinder zu schenken, die mit der Gabe der Prophezeiung gesegnet seien, und sein Wunsch wurde erhört und sein Geschenk waren die Gazala. Doch je mehr dem Erstgeschlüpften über die Zukunft offenbart wurde, desto mehr entfremdete er sich seinen Brüdern. Und auch den Gazala stand ein schlimmes Schicksal bevor. Denn niemals sind jene für lange Zeit gut gelitten, die wissen, was da kommen wird. (…)«
Der Fleischschmied
ER duckte sich gegen den eisigen Wind. Die Elfen erzählten sich Geschichten darüber, dass der Nordwind wie mit Messern ins Fleisch schneiden konnte. Feiner, harter Schneegriesel trieb vor dem Wind. ER konnte sich gut vorstellen, wie einem der Wind und die Eiskristalle die Haut vom Gesicht schälten, wenn man sich nicht schützte. ER hasste den Norden Albenmarks. Die endlosen Winter. Und den, den ER heute besuchen wollte. Die Zuflucht des Alben lag weit entfernt vom nächsten Albenstern und dieser Fußmarsch dauerte bereits Stunden.
Natürlich hätte ER Zauber weben können, um SICH zu schützen, aber jeder Zauber würde eine Spur hinterlassen. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie etwas merkten. Heute würde ER das fünfte Mal das Ungeheuerliche wagen. Vier Mal war es geglückt. Vier Mal war ER über verschlungene Pfade zur Welt der Menschen geflohen, sorgsam darauf bedacht, nur die Spuren zurückzulassen, von denen ER wollte, dass man sie fand.
Aber wie es schien, waren SEINE Morde noch niemandem aufgefallen — was IHN darin bekräftigte, dass ER SICH für den richtigen Weg entschieden hatte. Die Zeit der Alben war vorüber. Vor allem die des einen.
SEINE grimmige Entschlossenheit ließ IHN die Kälte vergessen. Seit die Alben mit den Devanthar paktiert hatten, um Nangog ihre Schöpfung zu rauben, hatten sie ihre Kraft verloren. ER konnte nicht verstehen, warum die Alben diese Werke duldeten. Ihr Bruder entstellte die Schöpfung, griff heraus, was gut war, und verdarb es mit all seinen Chimären! Sie waren willkürliche Kreuzungen aus den Kreaturen aus der Anfangszeit der Schöpfung, jenen frühen Tagen der Welt, als die Alben sich noch an ihrem Werk erfreuten. Jener Bruder aber formte Kreaturen wie die Minotauren, die er aus Trollen, Elfen und Stieren zusammenfügte! Wie konnte ein Albe so etwas tun? Selbst seine Brüder und Schwestern nannten ihn abfällig den Fleischschmied – und doch unternahmen sie nichts gegen seine Werke, die der Schönheit ihrer Welt spotteten.
ER dachte an all die Zwitterwesen, die Albenmark bevölkerten. Die Kentauren, Faunen, die fuchsköpfigen Kobolde und die Lamassu, die nicht einmal Arme hatten und darauf angewiesen waren, dass man sie fütterte, wenn sie nicht vermochten, sich kraft ihrer Zaubermacht die Speisen zum Munde schweben zu lassen. Das alles war krank! Hier und heute würde ER das am schwersten erkrankte Glied abtrennen! ER würde Albenmark heilen und einer großen Zukunft entgegenführen!
Fast einen halben Tag dauerte SEIN Aufstieg in die tief verschneiten Berge, bis IHN ein scharfer Ruf, aus seinen finsteren Gedanken schreckte.
»Währ bist du?«
Zwischen den Felsen trat eine riesige Gestalt hervor. Noch so eine Chimäre. Ihre Haut hatte die Farbe von Granit. Der Wächter war ein Troll, jedenfalls der obere Teil von ihm. Unterhalb des Nabels schien ein Gelgerok in die Schöpfung eingeflossen zu sein. Er hatte dem Troll starke Raubechsenbeine und einen langen, geschuppten Schwanz gegeben. Und größer gemacht hatte er ihn. Mehr als vier Schritt groß war diese Kreatur. Eindrucksvoll, ja furchteinflößend für einen Elfen. Nicht für IHN. ER empfand nur Verachtung für dieses Zerrbild.
»Du erkennst mich nicht?«, entgegnete ER schroff.
»Naihn!« Die Missgeburt klang einfältig.
»Beuge dich vor und ich werde dir meinen Namen ins Ohr flüstern. Der Wind darf uns nicht lauschen und das Wissen darum, wer ich bin, davontragen.«
Man konnte dem Antlitz des Wächters ansehen, wie er verzweifelt versuchte, dem gerade Gehörten einen Sinn abzuringen. Es war offensichtlich, dass er sich seiner Dummheit bewusst war. An sich selbst zweifelnd, kam er erst gar nicht auf die Idee, dass er hereingelegt wurde. Er war es gewohnt, nicht alles zu begreifen, was ihm gesagt wurde. Er beugte die Knie, krümmte sich und ging schließlich auf alle viere.