»Das Huhn ist der Glücksbringer des Steuermanns«, sagte der Zwerg neben ihm, ein alter Hauer, wie es schien, dem sich der dunkle Gesteinsstaub tief in den Falten des Gesichts abgelagert hatte. »Und gib nichts auf Grungi; er war schon übellaunig, als er aus seiner Mutter kroch.«
»Ein Glücksbringer? Aber die Unyleh ist doch ein guter Aal! Ich habe mich erkundigt …« Das hatte ER in der Tat, bevor ER sich das erste Mal einem dieser obskuren Gefährte anvertraute. Das Boot hatte einen guten Ruf. Es war erst zwei Mal gesunken und selbst dabei hatte es einzelne Überlebende gegeben. Für dreizehn Jahre seit dem Stapellauf war das eine überaus erfreuliche Bilanz.
»Das Huhn wird ohnmächtig, wenn der Mief hier drin zu dicht wird. Dann wissen wir, dass es höchste Zeit ist, aufzutauchen und das Luk zu öffnen.«
ER stutzte. »Müsste es dafür nicht am Boden herumlaufen? Ich meine, wenn der Mief über unseren Köpfen so dicht ist, dass ein Huhn ohnmächtig wird …«
»Bist wohl ein Klugscheißer«, zischte Grungi.
»Am Boden geht nicht!«, rief der Steuermann von vorn. »Wir können es nicht einfach frei im Boot herumlaufen lassen. Hühner sind zu dämlich. Mir sind schon zwei in die Kurbelwelle geraten. Dieses da oben ist etwas klüger. Es wird so tun, als würde es ohnmächtig, wenn es findet, dass wir uns Sorgen machen müssten.«
ER blickte in die grinsenden Gesichter ringsherum. Waren die alle betrunken oder erlaubten sie sich einen Spaß mit IHM? ER atmete flach aus. Das waren Zwerge, und auch wenn sie wunderbar geschäftig waren, waren sie doch üble Gesellschaft. Zum Glück musste ER sie nur einen Tag lang ertragen. Und sollten sie IHN weiter verärgern, würden sie die größte Überraschung ihres kurzen Daseins erleben, wenn ER sich ihnen in seiner wirklichen Gestalt zeigte.
Über ihnen knirschte es beunruhigend laut, und das Huhn stieß ein erschrecktes Gackern aus.
»Wir haben die Flussmündung gefunden!«, rief der Steuermann. »Verhängt das Licht, damit ich die Barinsteine draußen besser sehen kann.«
Grungi nahm den Barinstein aus der Halterung und ließ ihn in einem Samtsäckchen verschwinden. Schlagartig wurde es finster.
ER hatte das Gefühl, dass der Gestank zunahm. »Warum ist das Huhn eigentlich mit dem Kopf nach unten aufgehängt?«
»Hast du noch nie geschlachtet, Kaufmann?«, erklang es irgendwo im Boot.
Ein Ruck lief durch den Aal. Wieder waren sie gegen einen Fels gestoßen!
»Wenn man die Viecher mit dem Kopf nach unten hält, dann zappeln sie weniger.«
DU hast es so haben wollen, ermahnte ER sich in Gedanken. Es ist eine Prüfung, die DU DIR selbst auferlegt hast. Der mächtigste Jäger, der die Himmel Albenmarks regierte, zusammengeschrumpft auf Zwergengestalt und eingesperrt in dieses kleine, stickige Boot. Welch eine wunderbare Übung in Geduld und Demut. Welch ein Kontrast zu seinen Plänen, die Götter zu stürzen!
Das Huhn über SEINEM Kopf stieß leise, wimmernde Laute aus, die im allgegenwärtigen Schleifen der Kurbelwelle fast untergingen. Und ER gefiel sich in seiner Vollkommenheit.
Einer der Steuerhebel knirschte. ER konnte spüren, wie sich das Boot gegen die Strömung stemmte und um ein paar Grad nach Steuerbord abschwenkte. Kurz sah ER Licht durch eines der Augen des Aals fallen. Das musste einer der Barinsteine sein, die gefährliche Felsen in der Passage markierten.
Die Zwerge kauerten schweigend, die Rücken gegen die Bootswand gepresst, und traten die Kurbelwelle. Jeder hing seinen Gedanken nach. Selbst das Huhn war jetzt ganz still.
Wenn Licht durch die Augen des Aals fiel, konnte man kurz die Gesichter der anderen erkennen — Landschaften aus bleicher Haut und Schatten. Sie waren zu zwölft. Die Unyleh war ein mittelgroßer Aal, und sie war mit allerlei Waren vollgestopft. Ein Teil hing in Netzen an der Decke und reduzierte den freien Raum über ihren Köpfen auf knapp eine Handbreit. Der Rest war in besonderen Frachtkisten verstaut, die der zylindrischen Rumpfform angepasst waren. Sie dienten ihnen zugleich auch als Sitzplätze.
IHM war schleierhaft, wie man auf diese Art des Reisens verfallen konnte. Es war gefährlich und unkomfortabel. Und all dies, nur um sich nicht an der Erdoberfläche blicken zu lassen. ER dachte an SEIN Ziel und tastete nach dem neuen Stein, den ER wohlverstaut in einem Lederbeutel an SEINEM Gürtel trug. Bald würde ER jene Himmelsschlangen zusammenrufen, denen ER vertraute. ER hatte sich etwas überlegt, das sie für immer miteinander verbinden würde.
»Hast du Angst?«, fragte IHN der alte Hauer an SEINER Seite.
»Nein, ich empfinde diese Art des Reisens als eine willkommene Gelegenheit zur Innenschau.«
Der Zwerg glotzte IHN an. Es war unübersehbar, dass er mit dieser Antwort nichts anfangen konnte. »Ich habe schon viele Fahrten hinter mir, ohne dass je ein Unfall geschehen wäre.«
Wie um seine Worte zu verhöhnen, lief erneut ein Ruck durch den Aal, und der Schutzbügel am Rumpf schrammte laut über Fels.
Einige der Passagiere stöhnten leise auf.
»Weitertreten!«, befahl ihr Steuermann. »Hier ist die Strömung stark. Wenn wir jetzt an Fahrt verlieren, bricht das Boot aus und wir werden auf die Klippen getrieben, die irgendwo steuerbords voraus liegen! Also treten!«
ER schloss die Augen und kämpfte den Instinkt nieder, SEINE wahre Gestalt anzunehmen. Wann immer ER sich bedroht fühlte, wollte ER sich in seinen Drachenleib flüchten. Als Himmelsschlange war ER ein unüberwindlicher Gegner. Doch in diesem Boot mochte IHN dieser Instinkt töten, wenn ER ihm nachgab. IHM war nur allzu bewusst, dass auch ER sterblich war. Wenn ER sich verwandelte, würde SEIN sich ausdehnender Leib den Aal zerfetzen. Er würde in tosender Strömung in einem Tunnel treiben und müsste darauf hoffen, dass ER während der Transformation, wenn ER am verwundbarsten war, nicht gegen einen Felsen geschleudert würde.
»Weißt du, was das Geheimnis ist?«, raunte der Zwerg an SEINER Seite. »Es ist die Kraft positiver Gedanken. Du musst einfach an das Beste denken und nicht an alle möglichen Unglücke, die geschehen könnten. Unsere Gedanken formen unser Leben!«
Grungi auf dem Sitzplatz gegenüber zog sich einen Popel aus der Nase und betrachtete ihn nachdenklich. Nach einer Weile drehte er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, bis er eine Kugel war, dann schnippte er ihn davon. »Das sind wir, alter Mann. Ein Popel in der Hand des Schicksals. Eben noch sicher in der Nase geborgen, dann herausgerissen und achtlos irgendwohin geschleudert. Positive Gedanken? Dass ich nicht lache! Wir sind Spielbälle des Schicksals. So war es immer und so wird es immer sein.«
ER blickte angewidert auf den kugelförmigen Popel, der SEIN Wams getroffen hatte, und dachte, wie recht Grungi doch hatte. Sobald der Aal sein Ziel erreichte, würde Grungi einen Unfall haben. Einen blutigen, sehr drastischen Unfall. Etwas, das ihm große Schmerzen bereitete, bevor er endlich starb.
ER klopfte den Popel ab. »Ich glaube, manchmal ist es klüger, sich an die positiven Gedanken zu halten. Ich bin auch überzeugt, dass das Leben dann glücklicher verläuft.«
Schlangen
Nandalee schob den Kopf durch das Luk und atmete tief ein. Endlich war sie diesem verfluchten Boot entkommen. Hinter ihr fluchte ein Zwerg und versuchte sie weiterzudrängen. Verdammtes Pack, dachte sie und beeilte sich, die letzten Stufen der Leiter zu erklimmen. Sie hatte diese Reise gehasst, das Eingesperrtsein in die stinkende hölzerne Tonne. Sie hatte geglaubt, sie müsse verrückt werden von dem mahlenden Geräusch der Kurbel, von der Gewissheit, dass hinter den zwei Zoll dicken Eichenbohlen Dunkelheit und Tod lauerten.
Zuletzt hatte der Drache wohl einen Zauber auf sie gelegt. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum sie plötzlich ruhiger geworden war. Auch er war angespannt gewesen. Sie merkte es, wenn er in Gedanken zu ihr sprach. Seine Worte brannten dann heißer. Sie spürte, dass es nicht wegen der Zwerge oder der Reise in diesem verdammten Aal war. Es lag an dem, dem sie folgten. Der Dunkle schien eine Ahnung zu haben, wer Alben verschwinden ließ, aber vertraute sich ihr nicht an. Was brauchte er auch den Rat einer Elfe? Sie hatte ihre Nützlichkeit überlebt. Jetzt war sie nur noch ein Klotz an seinem Bein, dachte sie bitter.