Undenkbar! Der Flammenschrei löschte all ihre Gedanken aus. Nie hatte sie den Dunklen so erschüttert gefühlt. Sie war nicht wehrlos. Ein Wort von ihr hätte Berge einebnen können.
»Und doch ist sie verschwunden«, wagte Nandalee einzuwenden. Sie sprach kurzatmig. Keuchte gegen den Schmerz an.
Der Drache schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, eine Albe zu ermorden, das würden die Devanthar nicht wagen. Damit würden sie einen Krieg der Welten heraufbeschwören.«
Die beiden Lichtschlangen hatten sich zu einem Bogen geschlossen. »Kommt, Dame Nandalee«, sagte der Drache und reichte ihr die Hand. Seine Stimme klang entschlossen, als riefe er sein Heer in die Schlacht, und seine Berührung ließ die Kraft und Entschlossenheit auch in ihr Herz strömen. »Wir werden nicht nach Nangog gehen. Wir kehren zurück in den Jadegarten, meine Holde. Und dann werde ich den Sänger suchen.«
Abschied
Gonvalon blickte auf das Gesicht im Stein. Es war unvollendet. Unvollendet wie ihr Leben. Herausgerissen vor der Zeit. Er legte den Kopf in den Nacken, blickte zum Himmel hinauf und sah den treibenden Wolken zu.
Bidayn hatte ihn gebeten, mit ihm kommen zu dürfen. Sie hatte nicht gewusst, wohin er gehen würde, aber sie hatte geahnt, dass es ein Platz sein musste, an dem er um Nandalee trauerte.
Sie hatte Blumen mitgebracht und vor den Fels gelegt, in den er das Gesicht geschlagen hatte. Ihm kam das unpassend vor. Wenn sie fort wäre, würde er die Blumen wegwerfen. Nandalee hatte das Wilde gemocht, das Natürliche. Tote Blumen waren nichts, das sie sich zu ihrem Andenken gewünscht hätte. Eher schon, dass ihr gemeißeltes Gesicht langsam hinter Efeuranken verschwand. Hinter etwas, das lebendig war und hierhergehörte. In den Wald. Ganz so, wie sie hierhergehört hatte.
Gonvalon konnte spüren, dass Bidayn reden wollte. Aber er würde es ihr nicht leicht machen. Er war an Bidayns Befragung durch die Meister der Weißen Halle beteiligt gewesen. Er wusste, dass sie Nandalee von dem verborgenen Fenster erzählt hatte.
»Darf ich es berühren?« Bidayn deutete auf das gemeißelte Antlitz und er nickte kaum merklich. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie die Hände ausstreckte. Sie beugte sich vor, als seien ihre Füße mit dem Waldboden verwurzelt, und berührte gerade eben mit den Fingerspitzen die steinernen Wangen.
»Das ist sie«, flüsterte Bidayn, ohne ihn direkt anzusprechen. »Schroff und unvollkommen und wunderbar …« Sie atmete schwer, als koste es sie all ihre Kraft, ihre Tränen zu unterdrücken. »Ich habe sie immer für unbesiegbar gehalten. Sie war immer härter als ich. Besser. Ich hätte niemals gedacht, dass sie zuerst …«
Er wollte das nicht hören! Keine Schuldbekenntnisse. Sie war nicht mehr und nicht weniger schuld als er. Er sollte kein Meister in der Weißen Halle mehr sein! Der Goldene hatte ihn vor das Fenster gerufen. Ausgerechnet vor das Fenster! Gonvalon hatte ihn gebeten, auf eine Mission geschickt zu werden. Ganz gleich, welche und wohin. Nur fort von hier. Aber die Himmelsschlange hatte ihm nicht gestattet, davonzulaufen.
War es klug zu bleiben? Zu gehorchen? Wussten sie wirklich, was das Beste war? Er hatte ihnen bedingungslose Treue geschworen, als er unter die Drachenelfen aufgenommen worden war. Und jetzt stand er das erste Mal in seinem Leben kurz davor, diesen Schwur zu brechen.
»Ich werde mich um den kleinen Vogel kümmern«, wisperte sie.
Plötzlich war er froh, dass Bidayn da war. Er nickte stumm. »Er fliegt immer noch zu ihrer Fensterbank, nicht wahr?«
»Ja. Er pickt an die Scheibe. Er will hinein. Er kann nicht glauben, dass sie fort ist. Dass sie …« Plötzlich brach sie in Tränen aus.
Gonvalon fühlte sich steif und aller Worte beraubt. Er schreckte davor zurück, Bidayn einfach in den Arm zu nehmen. Er könnte das nicht. Manchmal wurde er nachts wach und hatte das Gefühl, dass Nandalee neben ihm lag. Dass er eben noch ihren Atem auf der Haut gespürt hatte. Er kannte das. So war es bei den anderen auch gewesen. Doch diesmal war es noch stärker.
»Der Stein hier war sehr hart. Ich habe es irgendwann einfach aufgegeben«, sagte er unbeholfen.
»Ich kenne das Gefühl. Man konnte einfach nicht mit ihr streiten. Sie hat sich nie für etwas entschuldigt. Man konnte sie nicht ändern. Man muss schon ziemlich dämlich sein, jemanden wie sie zu mögen.« Sie versuchte zu lachen und endete wieder in Tränen.
Jedes ihrer Worte versetzte ihm einen Stich ins Herz. »Ich muss gehen«, sagte er knapp und wandte sich ohne ein weiteres Wort des Abschieds ab.
Der weiche Boden federte unter seinen Schritten und der unverwechselbare Geruch des feuchten Laubs stieg ihm in die Nase. Es war der Duft ihrer Liebesnächte gewesen. Der Duft, der durch die Wildschweinfelle und das Moospolster drang, wenn sie in dem Unterstand beieinanderlagen. Ihr Haar hatte immer nach Wald gerochen. Und nach Wind. Er lachte bitter auf. Was spann er sich da zusammen! Der Wind hatte keinen Geruch!
Gonvalon begann zu laufen. Er würde bis zur völligen Erschöpfung laufen. Bis die Müdigkeit jeden Gedanken an sie ausmerzte. Bis nichts mehr in ihm sein würde. Kein Schmerz, kein Gedanke. Nichts als taube Müdigkeit, die in traumlosen Schlaf mündete.
Die Form wahren
Seit ihrer Rückkehr war der Dunkle tief in Gedanken. Die Gazala hatten sich aus der Säulenhalle zurückgezogen, der Drache hatte wieder seine wahre Gestalt angenommen, aber Nandalee war noch immer im Leib eines Zwergs gefangen. Der plumpe Körper machte ihr zu schaffen. Schon mehrfach war sie durch das Gesichtsfeld des Drachen gewandert, um ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch er ignorierte sie. Manchmal redete er in einer Sprache, die sie nicht verstehen konnte, mit sich selbst. Er war unverkennbar aufgewühlt und nicht in der Stimmung, sich mitzuteilen.
Nandalee wusste nicht, wohin sie gehen wollte. Die weite Halle zu verlassen wagte sie nicht. Was, wenn er fort wäre, ehe sie zurückkehrte? Dann wäre sie womöglich für viele Tage in diesem gedrungenen Körper gefangen. Hatte er nicht gesagt, er wolle die anderen Himmelsschlangen zum Rat einberufen? Warum war er dann noch hier? Was hielt ihn zurück? Wenn er nur mit ihr reden würde! Natürlich, sie war in seinen Augen nur ein Staubkorn, und vielleicht hatte er sie ja sogar schlichtweg vergessen – wer wusste das schon. Und woher sollte sie wissen, was ihm half? Ihr half es, wenn sie über ihre Gedanken und Sorgen reden konnte. Wenn sie gezwungen war, etwas in gesprochene Worte zu fassen, klärte sich oft das Durcheinander ihrer Gedanken.
Der Dunkle glitt von der flachen Felsinsel, die sich in vielen Jahrhunderten der Form seines Drachenleibs angepasst zu haben schien. Feine Linien zogen sich durch das Gestein, als könne man Platten aus dem Fels herauslösen. Nandalee kannte Geschichten, dass Drachen über Schätze wachten, einen Hort aus Gold und Edelsteinen. Aber wahrscheinlich waren das nur Märchen. Zumindest die Himmelsschlangen könnten gewiss jeden Schatz der Welt an sich reißen, wenn sie es nur wollten. Machte das Schätze dann nicht wertlos? Was also mochte sich unter dem seltsamen Thron verbergen?
Ich werde nun zu meinen Nestbrüdern reisen. Die unerwartete Hitze seiner Worte ließ sie zusammenfahren.
»Ich brauche meinen alten Leib zurück!«, platzte sie da heraus. »Ich kann es nicht länger ertragen, im Körper eines Zwergs gefangen zu sein!«
Wir hatten diese Angelegenheit doch bereits besprochen, meine Holde.«
»Ich verstehe nicht …«, begann sie vorsichtig. »Ich kann mich nicht erinnern …«
Er wandte sein mächtiges Haupt zu ihr herum und musterte sie. Ich sagte zu Euch: Ich hoffe, Ihr erinnert Euch noch gut an Euren Körper! Habt Ihr das vergessen? Ihr habt mir nicht darauf geantwortet. Also nahm ich an, dass dies kein Problem darstellt.