War das Spott? Oder meinte er es ernst? Sie vermochte seine Gedanken nicht einzuordnen. »Es bereitet dir doch sicherlich keine große Mühe, mich zurückzuverwandeln«, sagte sie demütig.
Jetzt wich das Interesse in seinem Blick einem lauernden Starren, und obwohl sie all ihren Trotz aufbot, vermochte sie dem Drachenblick nicht standzuhalten. Dünner blaugrauer Rauch stieg aus seinen Nüstern. Das kommt darauf an, wer diesen Zauber webt. Ihr seid hier, um zu lernen – sowohl Euch selbst zu beherrschen als auch um Eure Kunstfertigkeit im Zauberweben zu vervollkommnen. Dies ist meine erste Aufgabe für Euch, Dame Nandalee. Eine Aufgabe, in der beide Gebiete, in denen Ihr lernen sollt, vereint sind. Ihr werdet Euch selbst zurückverwandeln. Und wenn ich Euch einen Rat geben darf, meine Holde – geht vorsichtig dabei vor. Es könnte Euch umbringen, wenn Organe wie die Nieren oder die Leber nicht an der richtigen Stelle liegen oder nicht ausreichend mit Blut versorgt sind. Es genügt also nicht, wenn Ihr Euch an Euer Spiegelbild erinnert. Kleine Abweichungen in diesem Bereich sind höchstens unter ästhetischen Gesichtspunkten interessant. Bedeutend ist allein, dass Ihr Euch gut an Euer Innerstes erinnert. Dass Ihr die ganze Tiefe Eures Wesens versteht. Bemüht Euch, die Form zu wahren, Dame Nandalee. Ich wünsche Euch gutes Gelingen. Es wird eine Weile dauern, bis ich hierher zurückkehre.
Sie dachte an den schrecklichen Tod von Sayn. Woher sollte sie wissen, wie sie in ihrem Inneren ausgesehen hatte? Sie konnte sich ja nicht einmal an die Form ihrer Nase erinnern. Sie war keine jener Elfen, die Stunden damit verbrachten, selbstverliebt ihr eigenes Spiegelbild anzugaffen! Nandalee spürte, wie sich ihr Innerstes zusammenzog. Das konnte nicht wahr sein. Das war ein Scherz! »Bitte lass mich nicht so zurück. Ich brauche einen Meister, um solche Zauber zu weben. Ich brauche Anleitung!«
Der Dunkle schien zu lächeln. Nachsichtig, fast mitleidig. Verständnisvoll. Sie hasste ihn für dieses weiche Schimmern in seinen Raubtieraugen. Er war ein Liebling der Alben. Vielleicht die erste Kreatur, der sie je Leben eingehaucht hatten. Ihm stand jeder Weg offen. Er war wie ein Gott. Wie hatte sie so vermessen sein können, zu glauben, dass sie ihn verstehen würde? Wie hatte sie Mitleid und Hilfe erwarten können? Sie war nicht mehr als eine bunte Raupe, die er interessiert beobachtet hatte. Vielleicht würde er sich schon bald nicht mehr an sie erinnern. Nein, dachte sie. Das war es nicht. Er würde zurückkehren, wenn aus der Raupe ein Schmetterling geworden war. Nandalee sah auf das schwarz spiegelnde Wasser, und das verhasste Zwergenantlitz blickte zurück. Dann sah sie erneut zu dem Dunklen auf, und legte all ihren Zorn in ihren Blick.
»Ich hasse dich«, flüsterte sie. »Wenn du das tust … Wenn du mich wirklich hier zurücklässt … dann …« Sie verstummte. Mit was hätte sie ihm drohen sollen? Dennoch hielt sie seinem Blick stand und sah, dass sich etwas darin verändert hatte.
Hass, meine Holde? Es schien ihr, als husche ein Anflug von Traurigkeit über seine Züge. Unbeugsamkeit und Trotz sind Euer Charakter, meine Holde. Ihr werdet viel mehr erreichen, wenn Ihr Euren eigenen Weg geht. Transformation im Körper wie im Geiste – nicht weniger ist das Ziel Eures Lehrjahres bei mir. Nutzt es gut. Dann werden wir einander wiedersehen. Ob in Hass oder in Freundschaft, wird sich zeigen.
Er sprach ein Wort der Macht und war, ohne ein Albentor zu öffnen, von einem Moment auf den anderen einfach verschwunden. Nur die Hitze seiner Worte hallte noch in ihr nach, doch dann verging auch sie. Nandalee war allein.
Das Gesicht verlieren
Artax’ Blick schweifte über die weite Ebene. Etwas mehr als eine Meile entfernt übten die Streitwagengeschwader, die er aus den Piraten aufgestellt hatte. Er war überrascht gewesen, wie wenige von ihnen in den vergangenen Monden desertiert waren. Er zahlte ihnen guten Sold, und sie waren bei der Sache. Er hatte den unsterblichen Madyas, den Großkönig von Ischkuzaia, an seinem Wandernden Hof besucht und mit ihm über eine Gefälligkeit verhandelt. Madyas’ Preis war eine Herde aus fünfhundert Pferden gewesen. Das war nicht zu viel für den Schlag, den er gegen Muwatta plante. Ein Schlag, der den großen Krieg vielleicht verhindern würde. Noch hatte Artax die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass die Vernunft siegen könnte und sie einen Weg zur Einigung finden könnten. Wenn dies allerdings nicht der Fall wäre, sollte sein Heer so gut vorbereitet sein, wie es nur möglich war.
Artax’ Gedanken schweiften erneut ab zu seinem Besuch am Wandernden Hof. Er hatte gehofft, dort Shaya zu begegnen, doch die Prinzessin war allem Anschein nach noch immer in Nangog. Er dachte oft daran, wie ihm die selbstsichere Kriegerin mit der Dornaxt in der Hand auf dem Deck des schwebenden Palastes gegenübergestanden hatte. Und an jene Nachmittage, als sie ihn auf dem Krankenlager besucht hatte. Artax lächelte gedankenverloren. Würden sie jemals allein miteinander sein können? In einer Hütte fern der Zeit, wie er sie sich einst mit Almitra erträumt hatte? Almitra, deren Bild mit den Monden, die vergangen waren, in seinen Träumen ganz und gar zu Shaya geworden war? Er war einer der mächtigsten Männer unter den Sterblichen und doch blieben ihm so viele Dinge versagt.
Deine Wünsche sind lächerlich, mischte sich die unwillkommene Stimme in seinen Gedanken ein. Was findest du an einem hageren, nach Pferden stinkenden Weibsbild? Wann wirst du endlich deine bäurischen Vorstellungen von Vergnügen ablegen? Das hier ist Vergnügen! Artax sah fremde Erinnerungen. Einen engen, mit Blumen geschmückten Hof. Die Wände waren mit erotischen Szenen bemalt. Er war in Urat, dem Palast der Morgenröte, Aarons Residenz weit im Osten nahe den Bergen von Kush. Ein junges Mädchen gab sich ihm hin. Wie alt mochte sie sein? Fünfzehn? Vierzehn? Ihre Brüste waren kaum gereift. Sie kniete vor ihm. Sie hatte Angst davor, dass er mit ihr auf jene Weise verkehrte, wie es die Götter für Männer und Frauen vorgesehen hatten. Zwei Mal hatte er das bereits getan und sich dabei an ihren Tränen ergötzt. Nun begann sie ihn zu langweilen. Sie glaubte, dass sie ihn auf diese Weise befriedigen könnte. Glaubte, sie würde ihn hereinlegen können. Ihn, den Unsterblichen. Im Schatten eines Säulengangs wartete Sulumal, der Hauptmann der Palastwachen, der ihn so tief verstand. Fast waren sie verwandte Seelen.
»Siehst du auch, wovor sie entflieht?«, rief er ihm zu.
Sulumal hatte ein hartes, von der Sonne und dem Wind der Berge gezeichnetes Gesicht. Seine Augen waren schwarz wie die Nacht und ohne Gnade. »Ich sah es und war erzürnt, Erhabener!«
Das Mädchen ließ von ihm ab. Sie blickte zu ihm auf. Ihre Augen füllten sich schon wieder mit Tränen. »Ich …«
Er schlug sie so heftig, dass sie zu Boden geschleudert wurde. »Schweig! Wage es nieder wieder, mich anzusprechen, ohne dazu aufgefordert zu sein!« Er wandte sich an Sulumal. »Wie sollen wir sie bestrafen?«
»In Anbetracht ihres Vergehens würde ich vorschlagen, wir bringen sie in die königlichen Ställe. Dort könnten ihr wahrhaft große Freuden bereitet werden.«
»Was für ein vortrefflicher Vorschlag. Keiner kennt mich wie du.«
Der Hauptmann trat aus dem Schatten und packte das Mädchen. Sie schlug um sich wie eine Wildkatze, aber gegen die Kraft des Kriegers war ihr Widerstand sinnlos.
Artax schüttelte heftig den Kopf und versuchte den unerwünschten Erinnerungen zu entkommen. Doch nichts half. Er sah den Stall. Sah, was sie dem Mädchen antaten.
Artax kämpfte gegen seinen Zorn an. Den Ekel. Die Tränen. Seit einigen Tagen hatte Aaron einen neuen Weg gefunden, ihn zu peinigen. Er ließ Bilder aus den vergangenen Leben in seiner Erinnerung auftauchen. Artax hatte noch keine Möglichkeit gefunden, sich dagegen zu wehren. Immer häufiger quälte ihn Aaron auf diese Weise. Er würde ihn noch in den Wahnsinn treiben. Er würde …