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Sie öffnete ihr Verborgenes Auge. Der Anblick der Halle war verwirrend, das Gewebe der magischen Linien vielfältig. Es war wie ein kostbarer Teppich, in den kunstfertige Bilder geknüpft waren. Die natürlichen Muster waren aufgelöst und einem fremden Willen untergeordnet worden. Langsam hob Nandalee ihre Hände vor ihr Gesicht. Hier war es ganz ähnlich. Ein fremdes Muster war in die Magie gewoben, die durch sie floss. Unnatürlich! Wenn sie die Knoten lösen könnte, würde alles vielleicht seine ursprüngliche Form annehmen. Aber sie musste sie entwirren, und durfte dabei nicht mit Gewalt vorgehen. Nichts durchtrennen, denn dann würde sie zugleich ihren Lebensnerv durchtrennen.

Sie hob die Hände so dicht vor ihre Augen, dass die Handteller fast ihre Nasenspitze berührten. Wärme strahlte von ihren Händen ab. Sie war sich sicher, dass ein einziges Wort des Dunklen genügen würde, um ihre Rückverwandlung einzuleiten. Ein Wort!

Sie musste sich frei machen von den Fesseln des Körpers und den Fesseln der Angst, musste eins werden mit dem magischen Gewebe. Sie versuchte, dem Lauf der Fäden zu folgen. Den endlosen Kehren. Frei sein.

Einer der Lichtfäden war anders. Blasser und dünner. Er wirkte, als sei die Kraft von ihm gewichen. Oder als sei er neu? War er am Ende die Fessel, die sie im Zwergenleib gefangen hielt? Musste sie ihn nur durchtrennen, um endlich wieder sie selbst zu werden?

Sie entschied, ihm zu folgen. Sie musste wissen, wo sein Ursprung lag. War es der Zauber des Dunklen, dann würde dieser zarte Faden sie zu ihm führen. Vielleicht wartete er ja sogar darauf, dass sie kam? Vielleicht war dies ihre Lektion und wenn sie ihn fand, dann würde er zurückkehren, um sie endlich zu erlösen?

Sie verengte ihren Blick, bis der blasse Lichtfaden alles war, was sie noch sah. Sie folgte ihm, wurde so winzig klein, dass sie in ihn hineinkriechen konnte, und ließ sich mit ihm gleiten. Sie hatte das Gefühl, dass eine große Last von ihr abfiel. Alles Schwere blieb zurück. Sie flog dahin, eins mit dieser magischen Nabelschnur, die sie mit ihrer Erlösung verband.

Der Flug endete mit einem Ruck. Sie hatte sich in einem Knäuel von Kraftlinien verfangen. Deutlich spürte sie ihr Herz schlagen. Die Angst wollte es schier zum Zerspringen bringen. Sie atmete aus und öffnete die Augen. Ihr Blick war verändert! Viel weiter, so als seien ihre Augen zur Seite ihres Kopfes gewandert. Sie wollte aufschreien und brachte nur ein merkwürdiges Geräusch hervor.

Sie kauerte inmitten eines großen Torbogens und vor ihr … Vor ihr lag das Zimmer, in dem sie in der Weißen Halle gelebt hatte! Nur dass es viel größer geworden war. Dazu erschaffen, eine Riesin in sich aufzunehmen. Und es war nicht leer. Jemand lag in ihrem Bett. Die Decke war über das Gesicht gezogen. Sie konnte nicht genau erkennen …

Plötzlich richtete sich der fremde Besucher auf. Es war Gonvalon! Was tat er da? Warum war er in ihrem Zimmer? In ihrem Bett! War da … Nein, er war allein. Er wirkte verunsichert und blickte zum Fenster. Sein Gesicht schien ihr schmaler geworden zu sein. Aber vielleicht lag es auch an der veränderten Art zu sehen. Der Morgen dämmerte.

Er sah sie an. Kam auf sie zu. Wenn sie ihn nur in ihre Arme schließen könnte! Ihn einmal berühren könnte!

Er schob das Fenster hoch und streute ein paar Körner auf die Fensterbank. »Du vermisst sie auch, nicht wahr?« Die Stimme hallte in ihren Ohren. Ganz fremd.

»Sie wird nicht mehr kommen, Piep.« Er berührte sie. Seine Hand so riesig, dass er sie zerquetschen könnte, strich ihr über den Kopf. Sein Gesicht, weit entfernt, wirkte hart. »Sie wird nicht mehr kommen«, sagte er noch einmal, schloss das Fenster und ging zur Tür. Vorsichtig öffnete er sie einen Spaltweit und spähte auf den Flur. Dann schlüpfte er hinaus. Und es blieb nur das Zimmer, kalt im grauen Morgenlicht. Ohne Seele.

Sie war Piep. Eine Misteldrossel! Es war sinnlos, sich dieser Erkenntnis zu widersetzen. Eben noch war sie in einem verhassten Zwergenleib gefangen gewesen und nun war sie nur noch ein winziger Vogel, gänzlich unfähig, sich auszudrücken. Der Faden aus Licht. Sie musste ihn wieder zu fassen bekommen. Erneut hineinschlüpfen.

Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Ließ sich fallen. Alle Gedanken und Ängste abstreifen. Alles abstreifen … Da war er wieder. Unverkennbar zwischen den stärkeren, hell strahlenden Fäden des magischen Musters.

Als sie die Augen öffnete, war sie wieder ein Zwerg. Und zum ersten Mal, seit der Dunkle sie verwandelt hatte, freute sie sich darüber.

Eins mit der Welt

Er begann verrückt zu werden, dachte Gonvalon. Jetzt redete er schon mit Vögeln. Ja, er hatte sich eingebildet, dass diese dunklen Vogelaugen ihn so angesehen hatten, wie sie es manchmal getan hatte. Nandalee. Ganz zu schweigen davon, dass er in Nandalees Kammer schlich, um heimlich in ihrem Bett zu liegen. Wenn das entdeckt wurde … Nicht auszudenken.

Ailyn empfing ihn mit einem Lächeln. Raureif lag auf der Wiese. Bidayn und die anderen, die gekommen waren, wirkten verfroren. Fast alle Meister und Schüler hatten sich versammelt. Ihre Blicke lagen auf ihm. Aber sie lasteten nicht auf ihm. Man schien ihm nichts anzumerken, dachte er erleichtert.

Er hob sein hölzernes Übungsschwert und grüßte die anderen. Zwei Wochen nach Nandalees Verschwinden hatten die Meister entschieden, dass alle eine gemeinsame Übung täglich abhalten sollten. Sie wollten das Band untereinander stärken. Die Schüler näher zusammenrücken lassen. Vielleicht wäre Nandalee noch hier, wenn sie sich dazu früher entschieden hätten.

Gonvalon ging in den tiefen Stand des erfahrenen Schwertkämpfers. Er bewegte seine Hände, als gelte es, einen großen Ball vor seinem Bauch zu balancieren. Langsam. Er hielt das Schwert in der Linken. Die Klinge war dicht an seinen Arm gepresst, Zeigefinger und Mittelfinger der Rechten waren ausgestreckt. Er konnte die Kraft, die das magische Netz durchströmte, in sich fließen spüren. Und seine Bewegungen waren in Harmonie mit dieser Kraft. Lange hatte er so nur mit einigen auserwählten Schülern geübt. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass Ailyn ihn beobachtet hatte. Vor zwei Wochen war sie überraschend zu ihm gekommen und hatte vorgeschlagen, dass sie alle seinen Schwerttanz lernen sollten.

Stolz erfüllte ihn, als er sah, wie sich Schüler und Meister mit ihm bewegten. Alle im gleichen Tempo. Selbst Bidayn hatte es schnell gelernt. Noch beherrschten sie nicht alle Figuren, doch den Auftakt hatten sie gemeistert. Dreimal wiederholte er mit ihnen, was sie bereits gelernt hatten, dann begannen sie mit den Übungen für eine neue Figur. Sie mussten tief in die Knie gehen. Ein Bein angewinkelt, das andere gestreckt, bis die Sehnen an den Innenseiten der Beine schmerzten. Das Übungsschwert war dicht über dem Boden. Die Linke berührte mit Zeigefinger und Mittelfinger den Puls am rechten Handgelenk. Er spürte nicht nur das Blut, ganz deutlich fühlte er auch die Kraft, die alle Dinge in dieser Welt miteinander verband, durch sich hindurchströmen. Der Schwerttanz lehrte die Schüler, eins zu werden mit allem um sie herum. Wenn das gelang, würden sie sich nach allen Richtungen hin verteidigen können. Sie würden die Angriffe der Gegner kommen spüren, ohne sie sehen zu müssen, und ihre Klinge würde einen silbernen Bannkreis um sie weben, der für die Schwerter der Feinde fast undurchdringlich war. Zum Abschied verneigte er sich und lobte die Besten, aber auch einige der weniger Begabten, die Fortschritte gemacht hatten. Ganz von allein fanden die Schüler in Gruppen zusammen, als sie zum Frühstück gingen.

»Du hast die Weiße Halle verändert, Gonvalon«, sagte Ailyn, als alle anderen gegangen waren.

Er sah sie an und wusste, dass sie kam, um ihn aufzumuntern. »Nicht ich. Du! Ich habe diese Übungen für mich und ein paar Auserwählte ersonnen. Das war sehr selbstsüchtig. Und ein weiterer Beweis dafür, wie wenig ich dazu tauge, ein Meister zu sein. Ich sollte zu den Drachenelfen im Jadegarten gehen und kämpfen.«