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»Das gibt es nicht! Das …« Er streckte die Hand nach ihr aus und sie hüpfte ihm in die offene Handfläche. Behutsam hob er sie hoch, bis er sie dicht vor Augen hielt. Sein Gesicht war, durch die Augen der Misteldrossel gesehen, eine weite, leicht verzerrte Fläche. Fremd und schreckenerregend.

»Was bist du?«

Sie piepste, was natürlich nicht half.

»Was bedeutet das? NA? Ist es ein Zufall? Kannst du mir noch mehr schreiben?«

Sie stieß ein lang gezogenes Trillern aus. Nandalee konnte spüren, wie erschöpft und verängstigt Piep war.

Gonvalons Hand zitterte. »Flieg hinab vor die Weiße Halle. Zum Pavillon auf dem südlichen Weg, wo … Weißt du überhaupt, wo Süden liegt? Haben Vögel Namen für Himmelsrichtungen?«

Wieder piepste sie. Der Schwertmeister hielt sie immer noch dicht vor seine Augen, als hoffe er, auf diese Weise ihr Geheimnis ergründen zu können. »Flieg zum Pavillon«, sagte er schließlich und setzte sie wieder auf das Fenstersims. Nandalee war verwundert. Er hätte sie auch einfach mitnehmen können. Vielleicht wollte er auf diese Weise ergründen, ob sie ihn auch wirklich verstanden hatte.

Unschlüssig tappte sie zum Rand des Simses. Wie sollte sie fliegen? Einfach mit den Flügeln schlagen würde wohl nicht reichen. Sie schreckte vor dem unglaublichen Abgrund zurück. Eigentlich waren es nur drei oder vier Schritt vom Fenstersims bis zur verschneiten Wiese unter ihrem Fenster. Aber für Piep war es … Verdammt, sie war ein Vogel! Natürlich konnte sie fliegen. Nicht denken, handeln, schalt sie sich still und stürzte sich in die Tiefe. Sie streckte die Flügel aus und flatterte wild drauflos.

Nandalee überschlug sich. Sie stürzte dem Schnee entgegen und wich zurück und … Piep übernahm das Fliegen. Er war die ganze Zeit über hier gewesen. Sie hatte ihn ausgesperrt … Nein, das war nicht das richtige Wort. Sie hatte ihn entmachtet. Ihm seinen Körper gestohlen und er hatte dabei zusehen müssen. Erst ihre Angst hatte ihn befreit. Er fing den Sturz ein paar Handbreit über dem Boden ab, stürmte dem Himmel entgegen und flog halsbrecherisch durch eine Lücke im Geäst einer Hecke. Sie konnte seinen Übermut fühlen. Seine Freude daran, wieder ganz Herr seiner selbst zu sein.

Er flog auf den verschneiten Wald zu, in dem er im Sommer seine Brut aufgezogen hatte. Natürlich hatte er nicht verstanden, was mit Gonvalon abgesprochen war. Was er wohl gefühlt hatte? Konnte er spüren, dass sie es war, die sich bei ihm eingenistet hatte? War er ihr böse?

Nandalee dachte an Gonvalon. Sie erinnerte sich, wie sie ihm im Sommer nach einer Schwertkampflektion im Pavillon einige Küsse gestohlen hatte. Er hatte protestiert, weil sie so nahe bei der Weißen Halle waren. Hinter einer Hecke, kaum vierzig Schritt entfernt, übte ein Fechterpaar, und der helle Klang der Klingen hatte ihren Überfall auf ihn begleitet. Er hatte nicht gewollt, dass ihre Liebe in der Weißen Halle zum Gesprächsthema wurde. So hatte Nandalee selbst Bidayn gegenüber geschwiegen. Allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass ihre Freundin zumindest geahnt hatte, was vorging.

Die Gedanken an Gonvalon brachten süßen Schmerz. Mit ihm die Liebe zu entdecken war das größte Abenteuer gewesen, das ihr Leben bislang für sie bereitgehalten hatte. Ihm so plötzlich und unvermittelt entrissen zu werden hatte sie tiefer erschüttert als die Trennung von ihrer Sippe. Vielleicht, weil sie in der Halle des Drachen kaum etwas anderes zu tun hatte, als nachzudenken. Wenn sie nur zum Pavillon könnte! Gonvalon wenigstens sehen. Piep hatte den Wald erreicht und landete auf einem kahlen Birkenzweig. Wachsam blickte er zum Himmel. Auf der Suche nach dem Schattenriss eines Falken oder eines anderen Räubers. Nandalee konnte fühlen, was ihn bewegte. Er hatte Hunger und er war ein wenig durcheinander. Er konnte ihre Anwesenheit spüren.

Ob sie ihn zum Pavillon locken konnte? Sie dachte an die halb hinter Rosenranken verborgenen Säulen. An den Fußboden mit seinem wunderbaren Meeresmosaik. Wie Piep die Dinge wohl sah? Das Meeresmosaik war für ihn wahrscheinlich nur eine Ansammlung bunter Steine, so beliebig wie Kiesel, die am Ufer eines Baches lagen.

Nandalee dachte an die kleinen gelbgrünen Schmetterlingsraupen, die Piep besonders gerne fraß. Sie versuchte ein Bild von ihnen in ihren Gedanken zu erschaffen. Ein Bild in allen Einzelheiten. Mit den blauschwarzen Haaren, den dunklen Augen. Ein Bild, wie sie sich krümmten, um vorwärtszugelangen. Als sie all ihre Erinnerungen an die Raupen fokussiert hatte, stellte sie sich den Mosaikboden des Pavillons vor. Und sie ließ Raupen darüber kriechen.

Piep trat unruhig von einem Bein auf das andere. Nandalee konnte seinen Hunger spüren. Er stieß sich von dem dünnen Zweig ab und flog. Er eilte dem Pavillon entgegen. Sie hatte ihn überlistet. Einen Vogel! Sie war nicht stolz auf sich.

Gonvalon wartete bereits. Der Wind spielte mit seinem weiten weißen Gewand. Vollkommen in sich selbst versunken, blickte er auf den Boden des Pavillons. Die Bilder des Meeres waren unter einer dünnen Schicht aus kaltem Weiß verschwunden.

Piep landete genau in der Mitte des Pavillons. Mit ruckenden Bewegungen sah er sich um. Er suchte die Raupen. Dann drängte Nandalee in sein Bewusstsein. Sie begann ihren Tanz, malte mit zierlichen Krallenfüßen und Flügelspitzen, doch nachdem sie die ersten beiden Buchstaben ihres Namens geschrieben hatte, vermochte sie sich nicht mehr zu erinnern, wie fortzufahren war. Wieder und wieder versuchte sie es. Es war, als sei auch ihr Wille von einem Fremden gelenkt. War der Dunkle hier? Hatte er einen Bann auf sie gelegt?

Dreimal hatte sie NA in den Schnee geschrieben. Dann würde sie den Ort verraten, an dem sie gefangen war. Es war der Jadegarten. Das verborgene Tal, in das der Dunkle sich zurückzog.

Erneut begann sie ihren unruhigen Tanz. Hüpfte, sprang und scheiterte. JA. Das war alles, was sie zu schreiben vermochte.

Erschöpft hielt sie inne. Bilder von bunten Raupen bestürmten sie. Hunger.

Gonvalon blickte zu ihr hinab. Die Buchstaben waren unsauber ausgeführt. Manche überlagerten einander. Was konnte sie tun? Sie hatte NA JA in den Schnee geschrieben! Was mochte er nur denken? Dass sich jemand einen Scherz mit ihm erlaubte?

Sie hatte einen letzten, verzweifelten Gedanken. Wenn sie sich durch Schrift nicht auszudrücken vermochte, dann vielleicht durch ein einzelnes Zeichen. Ein Zeichen, das weder ihr Name war, noch etwas über den Ort verriet, an dem sie sich aufhielt. Und doch mochte es Gonvalon das Wichtigste mitteilen. Dass sie lebte.

Nandalee kämpfte gegen ihre Unbeholfenheit und gegen Pieps Schwäche. Sie hatte ihrem kleinen Freund zu viel abverlangt. Hoffentlich sah Gonvalon, wie erschöpft der Vogel war.

Endlich hatte sie ihr Werk vollendet. Sie machte einen Hüpfer zurück, drehte ruckartig den Kopf und blickte erwartungsvoll zu ihrem Geliebten auf. Würde er verstehen, was er sah? War es deutlich genug?

Gonvalon kniete nieder. Seine Finger fuhren über die Linien, die sie in den Schnee gezeichnet hatte, dann sah er sie an. Tränen standen in seinen Augen. Er streckte ihr die Hand entgegen und sie hüpfte auf die offene Handfläche. Vorsichtig umfing er sie mit der zweiten Hand. Sie spürte seine Wärme.

Etwas zerrte an ihr. Gonvalon sprach. Aber sie hörte die Stimme nur noch dumpf, als sei ihr Kopf in Wasser getaucht. Sie wurde durch das magische Band hindurch zurückgerissen.

Etwas drückte ihre Hand. Ihre linke Wange brannte. Sie blickte in opalfarbene blinde Augen.

»Sieh mich an!«, herrschte die Gazala sie an.

Nandalee drehte ruckartig den Kopf zur Seite. Eine Hand fuhr über ihre bärtige Wange. Sie zuckte zurück, wollte die Flügel ausbreiten, um die Balance zu halten. Sie strauchelte.

»Du darfst das nicht tun! Du wirst dich gänzlich verlieren. Er will, dass du zu dir findest. Stattdessen beginnst du dich aufzulösen. «

Auflösen? Was sollte der Unsinn?

Die Hand der Gazala strich über ihr Gesicht. Über den verhassten Bart. Verharrte auf der faltigen Stirn. »Es ist eine Sache, seinen eigenen Körper zu verwandeln. Aber wenn du eine Seele verdrängst, um ihr den Körper zu stehlen, dann beschreitest du den Weg der Dunkelheit. Es ist ein Weg der schnellen Erfolge. Am Anfang. Am Ende jedoch verliert jeder, der diesen Weg geht.«